Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 1. »Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex«

1. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hat an alle Ehepartner appelliert, sich vom weit verbreiteten Termindruck zu befreien und so mehr Zeit auch für Sexualität zu finden. In einer Gesellschaft, in der häufig schon Kinder Terminkalender benutzen, müssten die Menschen ein ’neues Zeitgefühl‘ entwickeln, das mehr Gelegenheit biete für ‚Kommunikation und Streitkultur, für Religion und Spiritualität, aber auch für mehr Intimität und Sexualität‘, heißt es in der Mitteilung der Pressestelle.“[1]

Eine bemerkenswerte Meldung vom 13.1.2000. Bemerkenswert nicht nur, weil es die katholische Kirche ist, die zu mehr Sex aufruft. Bemerkenswert ist diese Pressemitteilung des Erzbischofs vor allem aus einem anderen Grund: Dass Sex meist Spass macht, entspannend und gesund ist und vermutlich sogar unser Leben verlängert, liegt bekanntlich an der physischen und psychischen Grundausstattung des Menschen, die er während seiner unvorstellbar langen Entwicklungsgeschichte erworben hat. Dass wir heute zur Nutzung dieser segensreichen Mitgift extra aufgefordert werden müssen zeigt, wie zweifelhaft die Art von Fortschritt offenbar ist, der sich unsere Gesellschaft verschrieben hat. Diese Gesellschaft, die sich selbst gern als „modern“, „hoch entwickelt“ und „aufgeklärt“ bezeichnet, folgt nämlich einem recht merkwürdigen Programm. Dieses Programm treibt uns im Laufe unseres Lebens dazu an, dass wir auf unserer Suche nach Wohlbefinden und Glück eine Unmenge von Energie und Zeit fürs Geldverdienen und Geldausgeben aufwenden. Und dieses Programm hat uns im Laufe der Menschheitsgeschichte einen gigantischen technischen Fortschritt und, damit einhergehend, ungeheure Möglichkeiten und Zeitgewinne beschert.

Aber dieses Programm sorgt zugleich offenbar dafür, dass wir uns diese Gewinne immer wieder abjagen lassen. Ein Programm also, das dafür verantwortlich ist, dass uns am Ende der rastlosen Suche nach kostspieligen äußeren Genussquellen nicht einmal mehr Zeit bleibt für die Nutzung jener Quelle, die Gott oder die Evolution in unser Inneres gratis eingebaut hat.

[1]: Auf Nachfrage legte die Pressestelle Wert darauf, dass es in der Originalmitteilung „auch“ für Intimität und Sexualität und der „Ehepartner“ heißt.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 2. Zeit-Sparen

Von Paradoxien und Fallen der Beschleunigung

2. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Wir sind unablässig bemüht Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal Zeit sparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, wir fahren mit Hochleistungslimousinen, wir kommunizieren mit Handys und Internet, wir produzieren auf Roboterstraßen usw. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitäten behindert werden könnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten, verkürzen die Sperrstunden und locken bereits im Spätherbst mit Schoko-Nikoläusen und im Spätwinter mit Schoko-Osterhasen. Wir ernähren uns im Winter von eingeflogenen Sommerfrüchten. Viele machen im Sommer Winterurlaub und im Winter Sommerurlaub. Wir tun längst mehrere Dinge gleichzeitig, wir entwickeln uns zum „Simultanten“, wie der Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler diesen Sozialcharakter treffend nennt.[1] Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus und manche kaufen und verkaufen angeblich ihre Aktien während des Mittagessens.

Aber bei all dem Bemühen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt. Wann werde ich den Zeitdruck wirklich los? Wann verschwindet die Uhr aus meinem Hinterkopf? Wann bin ich endlich ganz bei mir? Wächst nicht sogar mit dem Bemühen um effiziente Kontrolle und Nutzung der Zeit oft sogar der Berg nicht erledigter Aufgaben und nicht ausgeführter Pläne? Vermehrt sich beim Kampf gegen die zerrinnende Zeit nicht manchmal sogar der Stress?

Schlimmer noch: Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass unser Umgang mit Zeit noch viel weiter reichende Folgen hat. Aus der Physik des Alltags wissen wir, dass Beschleunigungsphasen nicht nur mit einem besonders hohen Energieaufwand einher gehen, sondern mit dem Tempo eines bewegten Körpers auch dessen Steuerung schwieriger wird. So kann eigentlich nicht verwundern, dass die Beschleunigung mit einer fatalen Zwangsläufigkeit immer wieder Rückschläge produziert: Beschleunigungsfallen.[2] Wer zu schnell fährt, der landet schnell im Graben. Wer sich nicht Zeit zum Nachdenken nimmt, der macht schnell einen Fehler. Und wer Raubbau an seinem Körper und seiner Seele treibt und rücksichtslos mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt umgeht, der kann eines Tages eine saftige Rechnung präsentiert bekommen. Beschleunigungsfallen werfen uns hinter jenen Punkt zurück, von dem aus wir ursprünglich schneller werden wollten. Das Jagen und Hetzen von Menschen, Tieren, Pflanzen und die Missachtung ökologischer Kreisläufe führt nicht selten zur Erschöpfung und am Ende zum plötzlichen Ausbruch enormer Zerstörungspotenziale mit oft tödlichen Konsequenzen.

[1]: Geißler Karlheinz A.(2002), Der Simultant, in: PSYCHOLOGIE HEUTE, Heft 11, S. 30-35. ↑

[2]: Backhaus Klaus / Bonus Holger (1994) (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 3. Schullaufbahn

Lernen im Laufschritt – und was dabei auf der Strecke bleibt

3. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Ich bin doch noch nicht fertig!“, protestiert der kleine Hans, als ihm der Lehrer das Blatt abnimmt. Sein Protest verhallt. Leistung ist Arbeit pro Zeit, und zum Zwecke der Leistungsmessung muss die Zeit eben künstlich verknappt werden.

Nicht nur bei Leistungstests werden Kinder und Jugendliche in der Schule systematisch unter Zeitdruck gesetzt. Der Lehrer und Erziehungswissenschaftler Bruno Posod, der die Aussagen von insgesamt 1400 Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern ausgewertet hat, kommt zu einem vernichtenden Urteil: 45 Prozent der 14- bis 19-jährigen Schülerinnen und Schüler verspüren „oft“ oder sogar „immer“ Zeitnot im Zusammenhang mit schulischer Arbeit. 70 Prozent gaben an, auf ihre individuellen Zeitbedürfnisse werde in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder „nie“ Rücksicht genommen. Und 95 Prozent berichteten, dass sie in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder sogar „nie“ lernen, auf ihre Gefühle zu achten bzw. diese auszudrücken.[1] Zu viel Stoff und zu wenig Zeit – darin waren sich fast alle befragten Schüler, die meisten Eltern und auch viele Lehrer einig. Erziehung zur Schnelligkeit scheint eine der zentralen Wirkungen, vielleicht sogar zentrales Ziel von Schule zu sein. Posod sieht in der einseitigen Schnelligkeitsorientierung eine Gefahr, weil dadurch die Fähigkeit zum genauen Wahrnehmen, zum Nachdenken über das Wahrgenommene, zur intensiven Durchdringung, zum Überprüfen und Bewerten des Gelernten zu kurz kommt. Dies mag Schülern, Eltern und Lehrern zwar nicht bewusst werden, ist aber dennoch charakteristisch dafür, was die Schullaufbahn den Kindern zumutet und vorenthält.

Das Lernen im Laufschritt hat weitere Konsequenzen. Der Zeitdruck lässt oft nicht einmal zu, das Gelernte zu wiederholen, zu üben oder gar anzuwenden. So bleibt den Kindern das eigentlich wohl verdiente Erfolgserlebnis, welches Lernprozesse abschließen sollte und zu neuem Lernen motivieren kann, verwehrt. Zeitdruck verhindert, dass Themen von mehreren Seiten aus beleuchtet werden, wodurch sie in der Regel erst wirklich interessant werden. Aus Zeitdruck bleiben die Kinder sich selbst überlassen, wenn es darum geht, aus der Vielzahl der Fächer ein einheitliches Bild von der Welt zu konstruieren. Zeitdruck ist dafür verantwortlich, dass aufkeimendes Interesse an bestimmten Themen nicht weiter berücksichtigt und damit sofort wieder erstickt wird. Eltern und Lehrer wundern sich dann, wenn Schüler von Schuljahr zu Schuljahr immer passiver und uninteressierter werden. Und hinterher beschweren sich Arbeitgeber und Hochschullehrer darüber, dass Schulabgänger den Anforderungen von Arbeitswelt und Universität nicht genügen.

Nicht nur der Geist, auch der Körper nimmt schaden unter dem Diktat des Tempos in der Schule. Das beginnt dort, wo der natürliche Bewegungsdrang der Kinder gebrochen wird, wo man Kinder und Jugendliche fünf, sechs, bisweilen acht oder zehn Schulstunden auf harte Stühle zwängt, sie zum Stillschweigen verdammt und natürliche Widerstandsreaktionen als Unterrichtsstörungen bestraft. Das alles nur, um den Kindern schneller etwas eintrichtern zu können. Hier kann nicht nur die sich oft im Bewegungsdrang ausdrückende natürliche Neugierde der Kinder bereits irreversibel geschädigt werden. Hier wird auch die Grundlage für die spätere Volkskrankheit Nummer eins, die chronischen Rückenschmerzen, nicht selten mit Bandscheibenvorfällen einhergehend, gelegt.

Wenn Kinder ihre natürlichen körperlichen Bedürfnisse und ihre persönlichen Gefühle quasi an der Schultüre abgeben müssen, so dürfte dies für die Einstellung der Kinder zum Lernen, zur Bildung, zu kulturellen Werten insgesamt nicht besonders förderlich sein. Sie gewöhnen sich daran, auch ohne innere Beteiligung einfach zu funktionieren. So wird die Schule zu jenem Ort, an dem junge Menschen vor allem lernen, sich anzupassen, eine Rolle perfekt zu spielen, sich von sich selbst zu entfremden. Das, was eigentlich wichtig ist im Leben, findet für sie woanders statt. Längst haben wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schule“ vergessen: „Schule“, abgeleitet vom lateinischen „scola“, stand einst für die Mußestunden im Klosterleben, also in jener Institution, die im Mittelalter für Bildung und Erziehung zuständig war. Wenn dann ein Schüler explodiert, wie vor eineinhalb Jahren in Erfurt und vor einem halben Jahr in Coburg geschehen, wird schlaglichtartig bewusst, dass das Lernen im Laufschritt bisweilen einen hohen Preis erfordert.

[1]: Posod Bruno (1997), Schulzeit – Zeitschule. Ein Beitrag zu einem anderen Umgang mit Zeit, Wien, S. 161.↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 4. Hauptsache schnell und flexibel

Wie wir zum Homo Oeconomicus konditioniert werden

4. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Das japanische Erziehungsministerium hat Computerprogramme für Kindergartenkinder entwickeln lassen. Sie eignen sich für Kinder ab dem 30. Lebensmonat, verspricht der Prospekt den Eltern.[1] Frühförderung heißt also das Motto. Wer mit 30 Jahren zur Elite gehören soll, muss mit drei Jahren das Training beginnen. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Japan. In Deutschland hat ein dynamischer Unternehmer ein „Beton-Grabkammer-System“ auf den Markt gebracht. Es fördert den Verwesungsprozess des Leichnams. Spätförderung ist hier die Devise. Mit diesem System, so der Anbieter, lässt sich die derzeitige „Ruhezeit“ von 15 bis 20 Jahren auf 10 Jahre verkürzen.[2] Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur optimalen Flächennutzung . Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Schnell einsteigen, schnell ausrangieren! Dieses Erfolgsrezept hat Zukunft, zumindest in allen Ländern, die sich als „hoch entwickelt“ bezeichnen. Zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, in dem es immer mehr vor allem auf eine Tugend ganz entscheidend ankommt: die Fähigkeit, schnell und flexibel zu sein.

Schnelligkeit bezieht sich dabei auf das Tempo der Bewältigung von Aufgaben aller Art, die von außen gestellt werden: Schnell studieren, schnell Karriere machen, schnell Haus bauen und abzahlen, dazwischen schnell noch Kinder in die Welt setzen usw. Und Flexibilität zielt auf die Bereitschaft, sich diese Aufgaben jeweils auch zu eigen zu machen, sich an sie optimal anzupassen und sich dabei fast beliebig verbiegen zu lassen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch „The Corrosion of Character“, dessen deutsche Ausgabe den bezeichnenden Titel „Der flexible Mensch“ trägt, gezeigt, wie Zeit- und Flexibilitätsdruck auf eine oft unbemerkte Weise die gesamte Lebensführung des Menschen steuert. „Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in 40 Arbeitsjahren wenigstens 11mal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen.“[3] Beruf, Wohnort, soziale Stellung, Familie – alles ist den schnell wechselnden und kaum voraussehbaren Anforderungen des Wirtschaftslebens unterworfen. Die Folge davon: Das Leben wird zu einem ziellosen und immer schwerer durchschaubaren Stückwerk. Dabei wird Vieles plötzlich zum Flexibilisierungshindernis, was bisher als Kennzeichen eines erfüllten Lebens galt: die vertraute Nachbarschaft, feste Freundschaften und nicht zuletzt ein fester Charakter. Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein, bring keine Opfer! So lauten die Maximen eines flexiblen Lebens.[4]

Am unmittelbarsten zeigen sich die Flexibilisierungszwänge in der Arbeitswelt selbst. In einem Aufsatz des Arbeitsmarktexperten Karl Hinrich heißt es treffend: „Bei allen Zielsetzungen der Arbeitszeitflexibilisierung geht es den Betrieben darum, eine nach Dauer und Zeitpunkt beliebig abrufbare sowie dem Rhythmus des Betriebsgeschehens angepasste Nutzung der Arbeitskraft ´wie aus dem Wasserhahn´zu verwirklichen.“[5] Um auch psychologisch über die Arbeitskraft der Arbeitnehmer zu verfügen und optimale Anpassungsergebnisse an wechselnden Arbeitssituationen zu gewährleisten, wird das Personalmanagement mit Hilfe von Methoden, die wir aus Diktaturen bestens kennen, auf Vordermann gebracht. Die Mitarbeiter müssen sich auf Leitbilder und „Credos“ verpflichten. In einem solchen Credo, das für die Fortbildung von Klinikpersonal entwickelt wurde, heißt es zum Beispiel: „Wir sind höflich am Telefon und melden uns innerhalb von drei Klingeltönen mit einem Lächeln.“ Oder: „Wir identifizieren uns mit den Zielen des Unternehmens und sind ihm gegenüber loyal“, denn „der Patient ist unser Arbeitgeber“.[6] Das ist Gehirnwäsche, die sich offenbar nicht gar zu tarnen braucht. Der flexible Arbeitnehmer muss ein für allemal das Bewusstsein davon aufgeben, dass seine Interessen nicht von vornherein identisch sind mit denen seines wirklichen Arbeitgebers sind.

Das Prinzip „Hauptsache flexibel“ prägt die gesamte Lebensplanung des Menschen. Die ganze Gesellschaft wird „verwirtschaftet“ und damit geht eine „Menschenverachtung“ einher, die sich als „Liberalisierung“ „maskiert“, stellt Norbert Blüm treffend fest.[7] Bereits die Gründung einer Familie erweist sich als enormes Flexibilitätshindernis. Die Zeit, die Menschen für Familie und Kinder benötigen, fehlt dort, wo berufliche Notwendigkeiten wie Aus- und Fortbildungen, Dienstreisen oder auch nur das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsstätte unsere Lebenszeit beanspruchen. Die meisten Berufspendler empfinden das als Zwang, der nur Nachteile mit sich bringt, sie sind nicht freiwillig mobil.[8] Sie klagen über Zeitmangel, den Verlust von sozialen Kontakten und die Entfremdung vom Partner und von den Kindern. Dem entsprechend ist auch die Zeit, die Eltern, vor allem Väter, mit ihren Kindern verbringen, nach Auskunft der Statistik dürftig bemessen: Im Durchschnitt beschäftigen sich Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern 10 Minuten pro Tag. 10 Minuten spielen sie mit ihren Kindern, treiben Sport mit ihnen oder gehen auch nur mit ihnen spazieren.[9] Drücken wir es etwas deutlicher aus: Der Tag hat 24 Stunden. Für die Kinder bleibt davon genau ein Hundertvierundvierzigstel!

Die flexible Gesellschaft bringt überhaupt recht interessante Formen der Kommunikation und des Umgangs mit Traditionen hervor. Seit einiger Zeit gibt es zum Beispiel die Institution des „Speed Dating“ zur effektiven Partnersuche: Sieben Männer und sieben Frauen sitzen sich in einer Kneipe sieben Minuten lang gegenüber und entscheiden dann, mit wem sie sich wieder treffen wollen und mit wem nicht.[10] Alle Gewohnheiten müssen heute auf den Flexibilisierungsprüfstand. Der Flexibilitätssteigerung dient zum Beispiel auch die schrittweise Abschaffung der letzten Feiertage, die es noch gibt. Aus Börsianer-Kreisen hören wir schon den Vorschlag, alle Feiertage bis auf den ersten Weihnachtsfeiertag und den Neujahrstag abzuschaffen.[11] Und auch die Kirche muss sich in einer flexiblen Welt offenbar zur Dienstleistungseinrichtung entwickeln, zunehmend pragmatisch mit Traditions- und Glaubensfragen umgehen und sich der Methoden der Spaßgesellschaft bedienen: Pfarrer wetteifern um den Weltrekord im Dauerpredigen, der derzeit bei 28 Stunden und 45 Minuten liegt.[12] Und der Inhaber eines Beerdigungsinstituts in der Autostadt Detroit veranstaltet eine sogenannte „Drive-in-Trauer“, die es erlaubt, in nur 30 Sekunden Abschied von dem Toten zu nehmen, wobei nach Auskunft des Unternehmers sogar zwei Leichen gleichzeitig betrachtet werden können.[13]

[1]: Vogel Wolf (1992), „Dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind!“, in: DIE DEMOKRATISCHE SCHULE, Heft 9, S. 11 f. ↑

[2]: DER SPIEGEL 37/1993, S. 109. ↑

[3]: Sennett Richard (1998), The Corrosion of Character, New York (zitiert nach der deutschen Ausgabe: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter, Berlin 2000, S. 25). ↑

[4]: Sennett 1998, a.a.O., S. 37 f. ↑

[5]: Hinrichs Karl (1992), Die Zukunft der Arbeitszeitflexibilisierung. Arbeitnehmerpräferenzen, betriebliche Interessen und Beschäftigungswirkungen, in: SOZIALE WELT, Heft 43, S. 313-330, hier S. 322. ↑

[6]: Persönliche Mitteilung. ↑

[7]: Süddeutsche Zeitung 21.3.2002 ↑

[8]: Einer Studie der Universität Mainz über Berufspendler zufolge ist in Deutschland bereits jeder sechste Berufstätige, der in einer Partnerschaft lebt, aus beruflichen Gründen mobil. 42 Prozent der befragten Männer und 69 Prozent der Frauen empfinden den Zwang zur beruflichen Mobilität als hemmend für die Gründung einer Familie (Süddeutsche Zeitung 29.8.2001). ↑

[9]: Presseinformation Mehr Zeit für Kinder e.V. v. 6.9.2000. ↑

[10]: DER SPIEGEL 12/01, S. 209. ↑

[11]: Süddeutsche Zeitung 30.12.1998. ↑

[12]: Neue Presse Coburg 2.7.2001. ↑

[13]: Frankfurter Rundschau 2.8.1986. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 5. Gefangen im Hamsterrad

Aber die Hamster sind klüger

5. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Geld verdienen und Geld ausgeben, und Beides möglichst schnell und pausenlos, damit man in der Konkurrenz nicht zurückfällt – dieses Leben des so genannten modernen Menschen wird gern mit dem Leben des Hamsters im Hamsterrad verglichen. Hamsterräder sind zunächst nur harmlose Spielzeuge für Nagetiere. Was haben diese Spielzeuge der Hamster mit den Technologien, Institutionen und Verhaltenszwängen der Menschen in der modernen Gesellschaft gemeinsam?

Erstens macht es den Hamstern offenbar immer wieder Spaß, in das Rad zu steigen und loszutreten, vielen Menschen auch. Dies aber ist die schwächste Seite unseres Vergleichs. Bezeichnender ist schon, dass zweitens die Hamster bei all ihrer Treterei nicht vom Fleck kommen, wie auch Menschen ganz oft das Gefühl haben, trotz riesigen Energie- und Zeitaufwands nur auf der Stelle zu treten. Wenn das Hamsterrad dann einmal in Fahrt gekommen ist, heißt es drittens: Mithalten! Besonders für Nachzügler, die noch dazusteigen, ist das keine ungefährliche Angelegenheit. Da kann man leicht den Tritt verfehlen und unsanft auf Rücken oder Bauch landen. Das gilt für Hamster und für Menschen.

Noch etwas fällt auf: Die Physik des Hamsterrades ist eine ziemlich hinterhältige Physik: Je schneller man in ihm tritt, desto schneller dreht sich das Rad. Und je schneller sich das Rad dreht, desto schneller müssen diejenigen, die sich in seinem Inneren befinden, treten. Das Hamsterrad hat also eine eingebaute positive Rückkoppelung. In diesem Punkt unterschiedet sich das Hamsterrad von der alten Tretmühle, bei der es genau um die Konstanz der Geschwindigkeit ging, mit der zum Beispiel Lasten gehoben werden sollten. Der Witz ist nun, dass die Hamster offenbar klüger mit dieser Rückkoppelung umgehen als die Menschen. Wenn die Hamster keine Lust mehr haben, steigen sie aus. Die Menschen tun das meistens nicht. Dieser Rückkoppelungsprozess, der das Rad immer schneller und das Treten immer anstrengender werden lässt, begegnet uns in der Welt des schulischen Lernens, des Arbeitens, des Konsumierens etc. überall dort, wo die erwarteten Gütestandards mit den erbrachten Leistungen ständig zunehmen. Die Menschen treten im Hamsterrad also nicht nur allzu oft auf der Stelle, sondern sie tun dies zudem noch mit steigendem Aufwand.

Aber glücklicherweise gibt es jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung bewahren wollen. Ihre Fluchtwege und Notausstiege aus dem Hamsterrad lauten: kluges Zeitmanagement, Mut zum einfacheren Leben mit weniger materiellem Konsum, Teilzeitarbeit, Sabbatjahre usw. Nur bleiben angesichts solcher Ratschläge immer wieder offene Fragen: In welchen Lebensbereichen sind wir überhaupt Herren unserer Zeit? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele, die unter dem Hamsterrad leiden, gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, der wird oft über kurz oder lang umso mehr strampeln müssen, wird in vielen Fällen schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.

Wenn der individuelle Fluchtweg in eine Sackgasse führt, bleibt immer noch ein zweiter: ein kollektiver. Als Menschen haben wir eine Möglichkeit, welche den Hamstern verschlossen ist: Wir können prüfen, ob wir das Rad nicht gemeinsam und koordiniert verlassen und so die rasende Fahrt in die globale Erschöpfung beenden können. Diese Prüfung erfordert einige Fragen: Wer hat uns das Hamsterrad eigentlich hingestellt? Gott? Die Natur? Bestimmte Mitmenschen, die uns keine Ruhe gönnen? Haben wir es uns gar selbst gebastelt? Die Antworten auf diese Fragen münden in mehr als persönliche Zeithygiene: in Zeitpolitik. Zeitpolitik erleichtert es den Menschen systematisch, mit sich, ihren Mitmenschen und den natürlichen Lebensgrundlagen rücksichtsvoller umzugehen – und das heißt in vielen Fällen, ihnen mehr Zeit und Ruhe zu lassen.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 6. Das Signal von Dresden

Die Rache der Natur

6. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„So schnell ist das Wasser noch nie geflossen“, meinte eine Dresdnerin gegenüber dem Reporter der Süddeutschen Zeitung.[1] In Sachsen, Tschechien und Österreich werden im August 2002 an etlichen Stellen Pegelstände erreicht, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat. Für Teile Sachsens sind zwölf Jahre „Aufbau Ost“ dem Wasser zum Opfer gefallen. Bisher wurden solche Naturkatastrophen meist nur aus anderen Erdteilen gemeldet, zum Beispiel aus Bangladesch, wo eine Flut im Jahr 1991 innerhalb von wenigen Tagen Hunderttausenden das Leben gekostet hat, ohne dass dies in Europa sonderlich für Aufregung gesorgt hätte. Doch nun ist die Sintflut direkt vor unserer Haustür. Noch vor wenigen Jahren wurde angesichts solcher Ereignisse noch ernsthaft diskutiert, ob der Mensch an ihnen schuld sei. Heute gehen die für solche Katastrophen zuständigen Wissenschaftler nahezu einhellig davon aus, dass es sich hierbei um größtenteils vom Menschen gemachte Katastrophen handelt.

Auch über die Liste der Fehler der Vergangenheit gibt es einen weitgehenden Konsens: Erstens die Begradigung von Flüssen und die Zuschüttung von Rückhaltebecken, welche die Fahrtrinne für die Schiffe vertiefen und die Fließgeschwindigkeit des Wassers erhöhen sollte. Zweitens die Gewinnung von zusätzlicher Siedlungsfläche, welche dem Fluss gewaltsam abgetrotzt wurde, quasi als Gratis-Nebenprodukt der Beschleunigung der Flüsse. Drittens die Bodenversiegelung durch Beton-, Teer- und Pflasterflächen sowie die Bodenverdichtung durch schwere landwirtschaftliche Maschinen, die das Regenwasser immer schlechter versickern und immer schneller in die Flüsse zurückfließen lässt. Und viertens der Klimawandel, der nicht nur in der Erwärmung der globalen Temperatur erfahrbar wird, sondern auch in immer schnelleren Wetterumschwüngen, meist verbunden mit Stürmen, gegen die nicht mehr rechtzeitig gewarnt und vorgesorgt werden kann. Wen kann es wundern, dass dergestalt beschleunigte und somit vergewaltigte Wasserkreisläufe eines Tages mit Wucht zurückschlagen?

Die Rache der Flüsse ist nur ein Beispiel dafür, dass die Natur sich gegen die menschlichen Eingriffe zur Wehr setzt. Die Enquete-Kommission des Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ stellt in ihrem Bericht des Jahres 2000 zusammenfassend fest: „Seit Mitte dieses Jahrhunderts haben Umweltbelastungen erkennbar ein globales Ausmaß angenommen. Ozonabbau, Treibhauseffekt, Dürre- und Hochwasserkatastrophen, Trinkwassermangel und Bodenerosion, Tropenwaldbrände und Artensterben – die Liste der Schlagwörter, die jedermann mit globalen Umweltproblemen verbindet, ließe sich fortsetzen. Es macht sich weltweit die Erkenntnis breit, dass das menschliche Leben und Wirtschaften an einem Punkt angelangt ist, an dem es Gefahr läuft, sich seiner natürlichen Lebensgrundlagen zu berauben. Gleichzeitig sind wir auf dem besten Weg, mit unserem verschwenderischen Naturverbrauch die Möglichkeiten der nachfolgenden Generationen einzuschränken.“[2]

Der Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen bezeichnet die Quellen und Senken des Naturhaushalts, die uns zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zur Verfügung stehen: einerseits fruchtbare Böden, Wasser, Bodenschätze etc., andererseits jene Orte, an denen wir die unbrauchbar gewordenen festen, flüssigen und gasförmigen Reste des Wirtschaftens wieder der Natur überlassen, also zum Beispiel Mülldeponien, Weltmeere oder die Erdatmosphäre. Wenn von der Gefahr der Erschöpfung von Quellen und Senken aufgrund von verschwenderischem Naturverbrauch die Rede ist, handelt es sich, wie am Wasserkreislauf deutlich erkennbar, im Kern ebenfalls um ein Beschleunigungs- und Erschöpfungsproblem: Das Tempo von Produktion und Konsum beginnt sich an vielen Stellen immer mehr von den Geschwindigkeiten und Rhythmen der Natur abzukoppeln.

Ganz besonders offensichtlich ist die Störung der natürlichen Kreisläufe bei der Basisressource der Industriekultur, bei Kohle und Erdöl. Diese Energielager, die letztlich aus gespeicherter Sonnenkraft bestehen, werden seit rund 200 Jahren in rasender Geschwindigkeit geplündert. In diesem Zeitraum hat die Menschheit rund die Hälfte aller fossilen Energiereserven, das Produkt von 300 Millionen Jahren Sonneneinstrahlung, verpulvert.[3] Die Entdeckung des „unterirdischen Waldes“, wie Rolf-Peter Sieferle die Energietanks unter der Erde treffend nennt,[4] und seine systematische „Abholzung“ im Interesse des High-Speed-Wirtschaftens, hat zu einer dramatischen ökologischen Kluft geführt: Heute verfeuern wir jeden Tag mehr fossile Energie, als die Natur in 1000, nach anderen Berechnungen sogar in 15.000 Jahren produziert hat.[5] Mit der zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft wird sich diese Abkoppelung zwischen Natur und Wirtschaft weiter verstärken, weil Industrialisierungszwänge zunehmen und Transportwege länger werden.

[1]: Süddeutsche Zeitung 17./18.8.2002. ↑

[2]: Deutscher Bundestag (2000) (Hg.), Stichwort Nachhaltigkeit. Die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt. Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ im 13. Deutschen Bundestag, Berlin, S. 1. ↑

[3]: Ervin Laszlo im Gespräch mit Dietmar Gottschalk, in: Ist die Menschheit noch zu retten?, Sonderdruck der Josef Schmidt Colleg GmbH (1993), Bayreuth, S. 4. ↑

[4]: Sieferle Rolf-Peter (1982), Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution, München. ↑

[5]: Die Zahl 1000 stammt von Laszlo, die Zahl 15.000 von Grimmel (Grimmel Eckhard (1993), Kreislauf und Kreislaufstörungen der Erde, Reinbek, S. 63). ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 7. Der Tumor wächst

Über die Folgen unkontrollierten Wachstums

7. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Aus der Chronobiologie wissen wir, dass Organismen durch Kreislaufprozesse am Leben erhalten werden, welche Auf- und Abbauvorgänge in ein Gleichgewicht bringen. Die vom Hamsterrad der modernen Industriegesellschaft in unserer Innen- und Umwelt erzeugten Erschöpfungsprozesse unterbrechen diese Kreisläufe künstlich und zerstören die Gleichgewichte auf Dauer. An die Stelle zyklischer Verläufe treten lineare Abbauprozesse. Dafür gibt es viele Belege. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter die Rhythmen des Körpers schwächer werden und durcheinander kommen: der Wechsel von Wachsein und Schlafen, von Anspannung und Entspannung, von Gesundheit und Krankheit. Da sind zum Beispiel Herzzellen, die kurz vor dem Herztod aus dem Tritt geraten. Und da sind vor allem die Krebszellen. Sie unterscheiden sich von gesunden Zellen dadurch, daß sie ihre Fähigkeit zur rhythmischen Teilung verloren haben, aus der Zeitordnung der gesunden Zellen ausgebrochen sind und sich, losgeslöst von ihrer jeweiligen Umgebung im Körper, mit einer vielfach höheren Geschwindigkeit zu teilen beginnen.[1]

Rolf Kreibich, Professor für Technologieentwicklung in Berlin, hat auf die verblüffende Analogie zwischen dem Wachstum eines bösartigen Tumors und dem Wachstum der Industriekultur aufmerksam gemacht: Beide Prozesse gehen auf eine irgendwann stattgefundene einzelne Mutation zurück, beide beschleunigen sich nach dem Muster 2 – 4 – 16 – 156 usw. und haben explosive Tendenzen, beide resultieren aus fehlgesteuertem Wachstum, aus falschen Rückkoppelungsprozessen. In beiden Fällen haben die wachsenden „Subjekte“ das Ziel des Wachsens aus den Augen verloren. Beide wuchern auf Kosten ihrer Umwelt. Ihr einziger Zweck ist der maximale Energieumsatz, die Völlerei. Und beide Entwicklungen führen zu einer umfassenden Destrukturierung, die – wenn nichts dagegen unternommen wird – mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führt.[2]

Vielleicht läßt sich diese Analogie für das Schicksal der menschlichen Spezies noch fortsetzen: Das Bevölkerungswachstum des Südens und das Produktionswachstum des Nordens wird nicht mehr gesteuert durch einen kulturell bewährten Rhythmus, sondern vollzieht sich autonom. Es ist aus der Zeitordnung der jeweiligen natürlichen und kulturellen Umwelt ausgebrochen. Dies zeigt sich an unserer Siedlungsweise und an unserem Verkehr besonders drastisch. Schauen wir uns nur einmal eine gewachsene Ortschaft aus der Vogelperspektive an: Im Zentrum und im mittleren Bereich organisch verbundene Häuser und Straßen, an den Rändern, in den sogenannten Gewerbegebieten, wuchernde Fremdkörper, allesamt aus den letzten Jahrzehnten stammend, so als würden sie darauf warten, gleich wieder weggeschnitten zu werden. In der Tat gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen der Abbildung eines weit fortgeschrittenen Hautkrebses und der Luftaufnahmen einer modernen Großstadt. Oder schauen wir uns den Globus aus dem Weltraum an: die gigantische Mobilität, die Entwurzelung und Bindungslosigkeit – im Norden als Massenverkehr, im Süden als Massenmigration.

Die „Spitze“ der menschlichen Kulturentwicklung im Norden der Welt beweist eindrucksvoll, dass der Mensch heute je nach Zwecksetzung fast beliebig Raum und Zeit überwinden kann. Menschen, Sachen und Informationen legen in immer kürzeren Zeiten immer weitere Strecken zurück, entfernen sich aus jenem Milieu, mit dem Natur und Kultur sie umgeben haben. Das selbe tun Krebszellen, die den Körper mit Metastasen überschwemmen. Je ausgeprägter die Beschleunigung, desto eher ist es mit dem Leben zu Ende. Für den französischen Zeitphilosophen Paul Virilio läuft die Beschleunigung auf nichts anderes hinaus als auf die „Liquidierung der Welt“.[3] Das alles geschieht freilich nur, wenn es nicht gelingt, den hinter der Mutation steckenden Programmierungsfehler zu finden und zu beheben.

[1]: Mletzko Horst G. / Mletzko Ingrid (1991), Die Zeit und der Mensch, Leipzig-Jena-Berlin, S. 76. ↑

[2]: Kreibich Rolf (1991), Zukunft als gestaltbare Zeitdimension, in: Burmeister Klaus / Canzler Weert / Kreibich Rolf (Hg.), Netzwerke. Vernetzung und Zukunftsgestaltung, Weinheim, S. 23-42, hier S. 23f. ↑

[3]: Virilio Paul, zit. nach Breuer Stefan (1992), Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg, S. 132. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 8. Was treibt uns eigentlich so?

Die Zeithierarchie der Märkte – oder: Das Geld ist immer schneller

8. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Der Wirtschaftsliberalismus verspricht seit über 200 Jahren das Paradies auf Erden: Wenn wir Angebot und Nachfrage frei schalten und walten lassen, dann bewirkt die „unsichtbare Hand des Marktes“, dass die Wünsche der Menschen bestmöglich zufrieden gestellt werden. Dass sich das Paradies bisher nicht zeigt, liegt nicht so sehr am ständigen Dazwischenfunken des Staates, sondern an den Konstruktionsfehlern der Marktlogik selbst. Heute wird immer klarer: Die Geld- und Kapitalmärkte kommandieren alle anderen Märkte. Sie geben den Takt der Weltwirtschaft vor.

Dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ einer ganz bestimmten Sorte von Nachfragern, nämlich den Nachfragern nach Dividenden und Zinsen, derart die Regie überlässt, wollen und können die Apologeten des Marktes nicht zur Kenntnis nehmen. Zum einen, weil es ihr gesamtes Denkgebäude durcheinander brächte. Zum andern, weil in diesem Denkgebäude der Faktor Zeit der Abstraktion zum Opfer gefallen ist. Dort heißt es nämlich, Preise würden sich unendlich schnell den Mengen anpassen. Nur so kommen jene eleganten Kurven und Gleichgewichtspunkte zustande, die unsere Wirtschaftslehrbücher zieren. Diese Zeitblindheit des herrschenden Marktmodells macht es blind für die Wirklichkeit der Märkte. Das zeigt ein Blick auf die Märkte selbst. Unterscheidet man Märkte zunächst nur danach, was auf ihnen gehandelt wird, so gibt es, grob gesehen, vier Arten von Märkten: Erstens Märkte für Ressourcen, die von der Natur gratis bereitgestellt sind, vom Menschen allerdings erst erschlossen werden müssen. Zweitens Märkte für Arbeitskräfte. Drittens Märkte für Produkte. Und viertens Märkte für Geld, das für den Kauf von Ressourcen, Arbeitskräften und Produkten mit dem Zwecke der Geldvermehrung dient und deshalb gemeinhin Kapital genannt wird.

Der Witz bei dieser Unterscheidung, besteht nun darin, dass von den Ressourcen- über die Arbeits- und Güter- bis hin zu den Geld- bzw. Kapitalmärkten in Hinblick auf die von der herrschenden ökonomischen Theorie ausgeblendete Zeitdimension sich etwas Entscheidendes verändert: Die Zeit, die die Anbieter von Waren benötigen, um im Falle einer Veränderung der Nachfrage zu reagieren, nimmt drastisch ab.

Zum einen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit der Märkte von der räumlichen Mobilität der Waren ab. Ressourcenmärkte sind in dieser Hinsicht die langsamsten, weil viele Ressourcen an ihrem Ort eingewurzelt sind und auf Veränderungen der Nachfrage hin nicht beweglich gemacht werden können. Man denke zum Beispiel an Bodenschätze im Erdinneren oder an klimaabhängige Pflanzen. Arbeitsmärkte sind schon etwas schneller, weil Menschen auf Nachfrageveränderungen hin durchaus ihren angestammten Ort verlassen, wobei sie freilich durch ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Familie, ihre Ausbildung etc. in ihrer Flexibilität begrenzt sind. Gütermärkte sind noch wesentlich schneller, weil die meisten Güter mit Hilfe der modernen Transporttechnik in realativ kurzer Zeit von A nach B transportiert werden können und es in der Regel ein Leichtes ist, Werbung und Vertrieb auf den jeweiligen Ort einzustimmen. Kapitalmärkte aber sind ohne jeden Zweifel die schnellsten: Es dauert bekanntlich nur Sekunden, um gigantische Summen rund um den Globus zu dirigieren. Bereits Mitte der 90er Jahre schätzte man, dass pro Tag zwei Billionen Dollar auf den weltweiten Kapitalmärkten umgesetzt wurden – davon übrigens nur ein verschwindender Anteil zum Zwecke der Abwicklung des Außenhandels.[1] Der „Rest“ zum Spekulieren.

Die unterschiedlichen Reaktionszeiten hängen zum zweiten davon ab, wie schnell an einem gegebenen Ort die nachgefragten Waren vermehrt werden können. Ressourcen sind teils nicht, teils nur sehr langsam vermehrbar. Selbst regenerierbare Ressourcen wie Pflanzen und Tiere reagieren oft nur sehr begrenzt und träge, weil die Natur meist nicht so schnell ist, wie die Nachfrager dies wünschen. Arbeitskräfte sind oft schon etwas schneller. Bei ihnen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit vor allem vom Erwerb ihrer Qualifikationen ab. Güter können in der Regel ziemlich schnell nachproduziert werden, wenn die technischen Voraussetzungen bereits vorliegen. Geld bzw. Kapital aber kann in Sekunden vermehrt werden, allein durch einen Willensentschluss – bei Staaten als Ausgabe neuer Geldscheine, bei Banken als Ausgabe von Krediten, bei Privaten als Kauf- bzw. Zahlungsversprechen.

Opfer dieser Zeit-Hierarchie der Märkte sind alle Langsamen und Eingewurzelten. Erstens die Arbeitnehmer mit ihren Familien, Nachbarn, Freunden etc. Zweitens die mittelständischen Unternehmen mit ihrer lokalen Verbundenheit und ihren vielfältigen Verpflichtungen für die Kommunen. Die Situation des Mittelstands ist durch seine besonders prekäre Lage innerhalb der Zeit-Hierarchie der Märkte gekennzeichnet: Eingezwängt zwischen dem hoch-dynamischen und anonymen Geldmarkt einerseits und dem wenig-dynamischen Arbeitsmarkt mit den konkreten Beziehungen zu Menschen andererseits, muss dem Mittelstand im globalen ökonomischen Hamsterrad als erstem die Luft ausgehen. Und Opfer sind schließlich auch die Kommunen, die Lernorte der Demokratie, die zur Zeit alles verscherbeln, was nicht niet- und nagelfest ist, um nicht zahlungsunfähig zu werden.

[1]: Altvater Elmar (1995), Wettlauf ohne Sieger. Politische Gestaltung im Zeitalter der Geo-Ökonomie, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK, Heft 2, S. 192-202, hier S. 193 f., und Altvater Elmar / Mahnkopf Birgit (1999/2000), Entschleunigung der Finanzströme durch die Tobin-Steuer, in: WIDERSPRUCH 38, S. 43-46. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 9. Zeitmaße

Welches Tempo tut uns gut? – Über die Bedeutung von Eigenzeiten

9. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Ein jegliches hat seine Zeit“: „Geboren werden, Sterben, Pflanzen, Ausrotten, das gepflanzt ist, Würgen, Heilen, Brechen, Bauen, Weinen, Lachen, Klagen, Tanzen, Steine zerstreuen, Steine sammeln, …, Behalten, Wegwerfen, Zerreißen, Zunähen, Schweigen, Reden, Lieben, Hassen, Streit, Friede.“ (Die Bibel, Altes Testament, Prediger 2, 3)

Es ist eine uralte Erfahrung, dass wir zu ganz bestimmten Zeiten ganz bestimmte Dinge tun, weil sie genau jetzt getan werden müssen. Es waren zunächst ungeschriebene, sehr viel später erst geschriebene Gesetze, die festlegten, was wann zu tun und zu lassen ist. Diese Gesetze waren zumeist aus den Notwendigkeiten der Natur oder den Traditionen der Kultur abgeleitet. Heute können und müssen wir immer häufiger selbst entscheiden, wann was zu tun ist und wann nicht. Diese Zeiterfahrung bzw. Zeitform nannten die alten Griechen „Kairos“. Jeder weiß, wie wichtig der richtige die Wahl des Zeitpunkts sein kann: wenn wir die Blumenwiese mähen oder das Blumenbeet jäten wollen, wenn wir eine Grippetablette einnehmen oder den Kindern etwas Neues erschließen wollen, wenn wir mit unserem Partner ein Problem angehen oder in ein neues Projekt investieren wollen usw.

Neben der Erfahrung vom rechten Zeitpunkt gibt es noch eine andere elementare Zeiterfahrung. Vor einigen Jahren habe ich auf einer einwöchigen Fahrradtour quer durch Deutschland eines Morgens versucht, mich an einen vor mir her fahrenden anderen Fernradler „anzuhängen“, der offenbar die Strecke schon besser kannte und nicht ständig auf die Karte sehen und auf Ausschilderung achten musste. Der voraus fahrende Radler fuhr etwa das selbe Tempo wie ich. Gegen Mittag allerdings war ich so erschöpft, wie gewöhnlich erst am Abend. Warum? Mein Lotse war offenbar doch eine Idee schneller, zunächst kaum merklich, aber auf längere Sicht mit enormen Konsequenzen für meinen Kräftehaushalt. Wichtig für unseren Umgang mit Zeit ist offenbar nicht nur, dass wir den Kairos erwischen, sondern auch, dass wir uns darauf einrichten, dass alles seine eigene Geschwindigkeit hat. Die Zeitdauer zur Überwindung einer Strecke lässt sich nicht beliebig verkürzen. Es kommt also auch auf den „Chronos“ an, die Zeit, die wir messen können – und die angemessen sein kann oder auch nicht.

Angemessene Zeiten gibt es außer im Zusammenhang mit Bewegungen, also mit Veränderungen des Ortes, auch bei Veränderungen von Zuständen. Solche Veränderungen werden oft als Prozesse bezeichnet. Das biologische Wachstum von Pflanzen, Tieren und Menschen, das Erlernen der Muttersprache oder von Fremdsprachen, die Lösung von Rechenaufgaben oder die Lektüre eines Buches, die intellektuelle und moralische Entwicklung des Menschen, das Erfinden und Bedienen von Werkzeugen usw. – all dies erfordert seine Zeit. Von Chronos kann auch in Zusammenhang mit anderen Arten von Zustandsveränderungen gesprochen werden. Dort, wo wir ohne äußeren Zwang etwas tun, wenn wir zum Beispiel am Wochenende kochen, am Feierabend im Garten arbeiten, mit Kindern etwas basteln, können wir, wenn wir Glück haben, die Erfahrung machen, dass wir uns soviel Zeit lassen können, wie wir benötigen, um die Aufgaben abzuschließen.

Radfahren, Kochen, Basteln, Spielen usw. sind in der Sprache der Psychologie und Soziologie Formen menschlichen Handelns. Handeln kann als Verlängerung des menschlichen Organismus verstanden werden. Das zeigt ja schon das Wort „Handlung“: etwas mit der Hand tun. Jeder weiß, wie ärgerlich und auf Dauer kräftezehrend es ist, wenn Handlungen die erforderliche Zeitdauer nicht zugestanden wird, wenn sie ständig unterbrochen werden müssen – durch das Klingeln des Telefons, durch ein dringendes Anliegen des Kollegen, durch Gedanken, die einem ständig in die Quere kommen. Wie gut tut es dagegen, eine Sache abgeschlossen zu haben, das Ergebnis betrachten zu können und mit seinem Werk zufrieden zu sein. Auch Handlungen als Verlängerungen des Organismus sind also offenbar generell durch eine je eigene Zeitdauer charakterisiert.

Neben den äußeren Handlungen benötigen auch die Veränderungen im menschlichen Organismus selbst, verstanden als Zusammenwirken von Körper und Psyche, eine gewisse Zeit. Wenn der Mensch zum Beispiel frische Luft einatmet und verbrauchte ausatmet, so dauert dieser Austauschprozess im Durchschnitt bei allen Menschen etwa ein bis drei Sekunden. Wenn dieser Prozess durch äußere Gewalteinwirkung, durch physischen oder psychischen Druck, gestört wird, sind die Konsequenzen sehr schnell spürbar – als Atemnot, Anspannung, Verkrampfung und ähnliches. Vergleichbares gilt für die Zeiten des Wachseins und des Schlafens, die Zeiten der Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung und der Verdauung und Ausscheidung, die Zeiten der Bestrahlung der Haut durch die Sonne.

Schließlich hat auch die Bewegung und Haltung des Körpers mehr mit Zeit zu tun, als uns gemeinhin bewusst ist. So sind Bandscheibenprobleme in der Regel die Folge einer meist viele Jahre währenden Missachtung der Eigenzeiten des Rückgrats: 15 bis 20 Minuten Sitzen, 15 bis 20 Minuten Stehen, 15 bis 20 Minuten Gehen – und dann wieder von vorne, auf diesen Rhythmus hat die Evolution unser Rückgrat optimiert. Auch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen braucht ihre Zeit, die sich bemerkbar macht, wenn „der Kopf voll“ ist oder „der Schädel brummt“. Und schließlich können auch unsere Gefühle „reif“ sein für die Begegnung mit einem Menschen oder die Beschäftigung mit einer Sache.

Kurz: Alle Arten von Veränderung, unabhängig davon, ob sie die Lage, die Situation oder die Gestalt betreffen, benötigen ihre Zeit. Auch der Austausch zwischen Menschen und ihren Umwelten – wie natürlich auch zwischen Tieren, Pflanzen, Organen und ihren Umwelten – braucht seine Zeit, ganz gleich, ob dieser Austausch sich als Handlung verselbstständigt hat oder ob er an Austauschmedien wie Luft, Nahrung, physikalische Kräfte oder Informationen gebunden ist. Dieses universelle Phänomen wird seit Langem als „Eigenzeit“ bezeichnet. Wenn die Eigenzeiten und Rhythmen, die Körper und Psyche innewohnen, ignoriert werden, wenn uns unsere Umwelt also Gewalt antut, kann dies katastrophal enden: In Fesseln oder ohne ausreichende Bewegungsfreiheit kann nicht gehandelt werden. Mit verschnürtem Hals oder nach Entzug von Sauerstoff aus der Raumluft kann nicht geatmet werden. Ohne ausreichendes Tageslicht mit gelegentlichem Sonnenschein können viele Menschen nachts nicht mehr recht schlafen und werden auch tagsüber depressiv. Und ohne Veränderungen in der Umwelt des Menschen und damit ohne geistige Anregungen kann der Mensch leicht emotional und intellektuell verkümmern.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 10. Entschleunigung

Das Hamsterrad stoppen: Zeithygiene und Zeitpolitik

10. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Es gibt jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung im Hamsterrad bewahren wollen. „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“ und „Gute Arbeit braucht ihre Zeit“, so heißen die Botschaften des modernen Zeitmanagements. Für eine wirkliche Befreiung vom Hamsterrad ist es jedoch wichtig, dass mit Hilfe solcher Ratgeber nicht nur Beschleunigungsfallen vermieden werden, sondern dass die so gewonnene Zeit auch wirklich frei bleibt und nicht gleich wieder „investiert“ und „verwertet“ wird.

Um solche Zeit, die von den Zwängen des Arbeitens und Konsumierens frei bleibt, geht es zum Beispiel den Kirchen, die den Wert des Feierabends, der Sonn- und der Feiertage anmahnen und verteidigen. Und auch das Plädoyer für Teilzeitarbeit und Sabbatjahre zielt auf die zumindest teilweise Befreiung aus dem Hamsterrad. Man kann in der Tat Nischen finden, Oasen der Ruhe, „Kurorte der Zeit“.[1] In solchen Kurorten der Zeit wird Zeit nicht für irgendeinen fremden Zweck genutzt, sondern sie vergeht einfach nur. Das können jene kleinen Fluchten sein, in denen ich mich dem Zwang, am Arbeitsplatz ständig Leistung erbringen zu müssen, entziehe – indem ich aus dem Fenster schaue und vor mich hin döse, indem ich ausgiebig auf die Toilette gehe, indem ich in einer ausgedehnten Kaffepause meinen Kommunikationsbedürfnissen nachgehe, indem ich meinen Mittagsschlaf im Büro abhalte oder die sogenannte Stille Stunde genieße. Wohlgemerkt: Nicht als Mittel der Leistungssteigerung, sondern als Mittel zur Schaffung einer leistungsfreien Zone, die allein der Optimierung des Wohlbefinden dient.

Wie wäre es, auch die größeren Zeitinseln einmal anders als gewohnt zu nutzen, auf das evolutionäre Prinzip von Variation und Selektion zu setzen und zu experimentieren: am Feierabend nicht als erstes den Fernseher anzuknipsen, am Wochenende und im Urlaub einmal das Auto in der Garage zu lassen, das Konsumverhalten zu überprüfen usw. Probieren Sie einmal die Einführung eines „Kauf-nix-Tages“ oder das „Safer Shopping“ mit Hilfe eines „Kreditkarten-Kondoms“![2]

Oder nehmen wir zum Beispiel die Gestaltung des Urlaubs: Wir könnten uns mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß auf den Weg machen, könnten bei solchen Experimenten mit langsameren Formen der Fortbewegung entdecken, dass mit der Reduktion der Reisegeschwindigkeit eine Intensivierung der Sinneseindrücke und damit der Sinnlichkeit des Reisens einhergeht, dass man beim Radeln und erst recht beim Wandern unendlich mehr sieht, hört, riecht und schmeckt als in Auto, Zug oder Flugzeug. Mit sanfteren Bewegungstechniken ergeben sich in der Regel auch ganz neue Formen der Begegnung mit Menschen und Tieren am Wegesrand. Drei Wochen mit dem Fahrrad in Südfrankreich unterwegs – in der Erinnerung kann das schnell als südfranzösischer Sommer verbucht werden. Ein kostensparender Weg zur Verlängerung des Urlaubs!

Aber bei all diesen kleineren und größeren Fluchtwegen und Notausstiegen aus dem Hamsterrad bleiben offene Fragen: Wie können wir uns gegen die Verführungen der Werbung und die Erwartungen unserer Mitmenschen eigentlich zur Wehr setzen? In welchen Lebensbereichen ist solcher Eigensinn überhaupt möglich? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Der individuelle Wege aus dem Hamsterrad führt allzu oft in eine Sackgasse. Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, muss vielleicht sogar über kurz oder lang umso mehr strampeln, er wird schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.

Deshalb muss zur Zeithygiene etwas Zweites dazukommen – die Zeitpolitik. Unter Zeitpolitik versteht man grundsätzlich all jene politischen Bemühungen, die dem Schutz von evolutionär entstandenen Eigenzeiten dienen und zwar dort, wo sie von ökonomisch erzwungenen Programmzeiten bedroht sind. Politisch sind Bemühungen dann, wenn sie nicht nur individuell ansetzen, sondern von Anfang an Einfluss auf die verbindliche Festlegung und Durchsetzung jener Spielregeln zielen, die in einem Gemeinwesen gelten und für die der Staat zuständig ist. Wie in anderen Politikbereichen so stehen dem Staat auch bei der Zeitpolitik grundsätzlich drei Arten von Maßnahmen zur Verfügung: Er hat erstens die Möglichkeit, Verhaltensweisen seiner Bürger durch positive Anreize, vor allem finanzielle Subventionen, zu belohnen, andere Verhaltensweisen durch negative Anreize, also Steuern und Abgaben, zu bestrafen. Er hat zweitens die Möglichkeit, seinen Bürgern bestimmte Verhaltensweisen zu gebieten oder zu verbieten. Und in vielen Fällen stellt der Staat drittens zusätzlich noch Mittel bereit, die zur Nutzung des gebotenen Verhaltens bzw. zur Vermeidung des verbotenen Verhaltens hilfreich sind.

Inhaltliches Ziel von Zeitpolitik müsste der Schutz von Eigenzeiten sein, und zwar auf allen drei Ebenen – beim Umgang mit der natürlichen Umwelt, mit der kulturellen und sozialen Mitwelt und mit uns selbst. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, sich, andere und die Natur zu hetzen. Der Einstieg ist längst gemacht. So wie Ökosteuern die Regenerationsfähigkeit der Natur schützen, so müsste eine mutige Familien-, Sozial- und Gesellschaftspolitik dafür sorgen, dass auch für die Erhaltung von Familien, für die Sorge für Kinder, Jugendliche und Alte und für die Pflege des gesamten Gemeinwesens genügend Mittel und Zeit zur Verfügung gestellt werden. Dass Eltern in aller Ruhe ihre Kinder großziehen können, dieses Ziel müsste Vorrang vor vielen anderen Zielen in unserem Gemeinwesen haben. Und Zeitpolitik müsste auch die Eigenzeiten von Körper uns Psyche dort unter Schutz stellen, wo sie in Schulen und an Arbeitsplätzen vergewaltigt zu werden drohen. Eine so reiche Gesellschaft wie die unsere könnte und sollte sich für die wirklich wichtigen Dinge im Leben genug Zeit lassen können.

[1]: Pleterski/Habinger 1999, a.a.O., S. 7. ↑

[2]: De Graaf John de / Wann David / Naylor Thomas (2002), Affluenza. Zeitkrankheit Konsum, München, S. 279-357. ↑