Welches Tempo tut uns gut? – Über die Bedeutung von Eigenzeiten
9. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:
„Ein jegliches hat seine Zeit“: „Geboren werden, Sterben, Pflanzen, Ausrotten, das gepflanzt ist, Würgen, Heilen, Brechen, Bauen, Weinen, Lachen, Klagen, Tanzen, Steine zerstreuen, Steine sammeln, …, Behalten, Wegwerfen, Zerreißen, Zunähen, Schweigen, Reden, Lieben, Hassen, Streit, Friede.“ (Die Bibel, Altes Testament, Prediger 2, 3)
Es ist eine uralte Erfahrung, dass wir zu ganz bestimmten Zeiten ganz bestimmte Dinge tun, weil sie genau jetzt getan werden müssen. Es waren zunächst ungeschriebene, sehr viel später erst geschriebene Gesetze, die festlegten, was wann zu tun und zu lassen ist. Diese Gesetze waren zumeist aus den Notwendigkeiten der Natur oder den Traditionen der Kultur abgeleitet. Heute können und müssen wir immer häufiger selbst entscheiden, wann was zu tun ist und wann nicht. Diese Zeiterfahrung bzw. Zeitform nannten die alten Griechen „Kairos“. Jeder weiß, wie wichtig der richtige die Wahl des Zeitpunkts sein kann: wenn wir die Blumenwiese mähen oder das Blumenbeet jäten wollen, wenn wir eine Grippetablette einnehmen oder den Kindern etwas Neues erschließen wollen, wenn wir mit unserem Partner ein Problem angehen oder in ein neues Projekt investieren wollen usw.
Neben der Erfahrung vom rechten Zeitpunkt gibt es noch eine andere elementare Zeiterfahrung. Vor einigen Jahren habe ich auf einer einwöchigen Fahrradtour quer durch Deutschland eines Morgens versucht, mich an einen vor mir her fahrenden anderen Fernradler „anzuhängen“, der offenbar die Strecke schon besser kannte und nicht ständig auf die Karte sehen und auf Ausschilderung achten musste. Der voraus fahrende Radler fuhr etwa das selbe Tempo wie ich. Gegen Mittag allerdings war ich so erschöpft, wie gewöhnlich erst am Abend. Warum? Mein Lotse war offenbar doch eine Idee schneller, zunächst kaum merklich, aber auf längere Sicht mit enormen Konsequenzen für meinen Kräftehaushalt. Wichtig für unseren Umgang mit Zeit ist offenbar nicht nur, dass wir den Kairos erwischen, sondern auch, dass wir uns darauf einrichten, dass alles seine eigene Geschwindigkeit hat. Die Zeitdauer zur Überwindung einer Strecke lässt sich nicht beliebig verkürzen. Es kommt also auch auf den „Chronos“ an, die Zeit, die wir messen können – und die angemessen sein kann oder auch nicht.
Angemessene Zeiten gibt es außer im Zusammenhang mit Bewegungen, also mit Veränderungen des Ortes, auch bei Veränderungen von Zuständen. Solche Veränderungen werden oft als Prozesse bezeichnet. Das biologische Wachstum von Pflanzen, Tieren und Menschen, das Erlernen der Muttersprache oder von Fremdsprachen, die Lösung von Rechenaufgaben oder die Lektüre eines Buches, die intellektuelle und moralische Entwicklung des Menschen, das Erfinden und Bedienen von Werkzeugen usw. – all dies erfordert seine Zeit. Von Chronos kann auch in Zusammenhang mit anderen Arten von Zustandsveränderungen gesprochen werden. Dort, wo wir ohne äußeren Zwang etwas tun, wenn wir zum Beispiel am Wochenende kochen, am Feierabend im Garten arbeiten, mit Kindern etwas basteln, können wir, wenn wir Glück haben, die Erfahrung machen, dass wir uns soviel Zeit lassen können, wie wir benötigen, um die Aufgaben abzuschließen.
Radfahren, Kochen, Basteln, Spielen usw. sind in der Sprache der Psychologie und Soziologie Formen menschlichen Handelns. Handeln kann als Verlängerung des menschlichen Organismus verstanden werden. Das zeigt ja schon das Wort „Handlung“: etwas mit der Hand tun. Jeder weiß, wie ärgerlich und auf Dauer kräftezehrend es ist, wenn Handlungen die erforderliche Zeitdauer nicht zugestanden wird, wenn sie ständig unterbrochen werden müssen – durch das Klingeln des Telefons, durch ein dringendes Anliegen des Kollegen, durch Gedanken, die einem ständig in die Quere kommen. Wie gut tut es dagegen, eine Sache abgeschlossen zu haben, das Ergebnis betrachten zu können und mit seinem Werk zufrieden zu sein. Auch Handlungen als Verlängerungen des Organismus sind also offenbar generell durch eine je eigene Zeitdauer charakterisiert.
Neben den äußeren Handlungen benötigen auch die Veränderungen im menschlichen Organismus selbst, verstanden als Zusammenwirken von Körper und Psyche, eine gewisse Zeit. Wenn der Mensch zum Beispiel frische Luft einatmet und verbrauchte ausatmet, so dauert dieser Austauschprozess im Durchschnitt bei allen Menschen etwa ein bis drei Sekunden. Wenn dieser Prozess durch äußere Gewalteinwirkung, durch physischen oder psychischen Druck, gestört wird, sind die Konsequenzen sehr schnell spürbar – als Atemnot, Anspannung, Verkrampfung und ähnliches. Vergleichbares gilt für die Zeiten des Wachseins und des Schlafens, die Zeiten der Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung und der Verdauung und Ausscheidung, die Zeiten der Bestrahlung der Haut durch die Sonne.
Schließlich hat auch die Bewegung und Haltung des Körpers mehr mit Zeit zu tun, als uns gemeinhin bewusst ist. So sind Bandscheibenprobleme in der Regel die Folge einer meist viele Jahre währenden Missachtung der Eigenzeiten des Rückgrats: 15 bis 20 Minuten Sitzen, 15 bis 20 Minuten Stehen, 15 bis 20 Minuten Gehen – und dann wieder von vorne, auf diesen Rhythmus hat die Evolution unser Rückgrat optimiert. Auch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen braucht ihre Zeit, die sich bemerkbar macht, wenn „der Kopf voll“ ist oder „der Schädel brummt“. Und schließlich können auch unsere Gefühle „reif“ sein für die Begegnung mit einem Menschen oder die Beschäftigung mit einer Sache.
Kurz: Alle Arten von Veränderung, unabhängig davon, ob sie die Lage, die Situation oder die Gestalt betreffen, benötigen ihre Zeit. Auch der Austausch zwischen Menschen und ihren Umwelten – wie natürlich auch zwischen Tieren, Pflanzen, Organen und ihren Umwelten – braucht seine Zeit, ganz gleich, ob dieser Austausch sich als Handlung verselbstständigt hat oder ob er an Austauschmedien wie Luft, Nahrung, physikalische Kräfte oder Informationen gebunden ist. Dieses universelle Phänomen wird seit Langem als „Eigenzeit“ bezeichnet. Wenn die Eigenzeiten und Rhythmen, die Körper und Psyche innewohnen, ignoriert werden, wenn uns unsere Umwelt also Gewalt antut, kann dies katastrophal enden: In Fesseln oder ohne ausreichende Bewegungsfreiheit kann nicht gehandelt werden. Mit verschnürtem Hals oder nach Entzug von Sauerstoff aus der Raumluft kann nicht geatmet werden. Ohne ausreichendes Tageslicht mit gelegentlichem Sonnenschein können viele Menschen nachts nicht mehr recht schlafen und werden auch tagsüber depressiv. Und ohne Veränderungen in der Umwelt des Menschen und damit ohne geistige Anregungen kann der Mensch leicht emotional und intellektuell verkümmern.