Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 6. Das Signal von Dresden

Die Rache der Natur

6. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„So schnell ist das Wasser noch nie geflossen“, meinte eine Dresdnerin gegenüber dem Reporter der Süddeutschen Zeitung.[1] In Sachsen, Tschechien und Österreich werden im August 2002 an etlichen Stellen Pegelstände erreicht, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat. Für Teile Sachsens sind zwölf Jahre „Aufbau Ost“ dem Wasser zum Opfer gefallen. Bisher wurden solche Naturkatastrophen meist nur aus anderen Erdteilen gemeldet, zum Beispiel aus Bangladesch, wo eine Flut im Jahr 1991 innerhalb von wenigen Tagen Hunderttausenden das Leben gekostet hat, ohne dass dies in Europa sonderlich für Aufregung gesorgt hätte. Doch nun ist die Sintflut direkt vor unserer Haustür. Noch vor wenigen Jahren wurde angesichts solcher Ereignisse noch ernsthaft diskutiert, ob der Mensch an ihnen schuld sei. Heute gehen die für solche Katastrophen zuständigen Wissenschaftler nahezu einhellig davon aus, dass es sich hierbei um größtenteils vom Menschen gemachte Katastrophen handelt.

Auch über die Liste der Fehler der Vergangenheit gibt es einen weitgehenden Konsens: Erstens die Begradigung von Flüssen und die Zuschüttung von Rückhaltebecken, welche die Fahrtrinne für die Schiffe vertiefen und die Fließgeschwindigkeit des Wassers erhöhen sollte. Zweitens die Gewinnung von zusätzlicher Siedlungsfläche, welche dem Fluss gewaltsam abgetrotzt wurde, quasi als Gratis-Nebenprodukt der Beschleunigung der Flüsse. Drittens die Bodenversiegelung durch Beton-, Teer- und Pflasterflächen sowie die Bodenverdichtung durch schwere landwirtschaftliche Maschinen, die das Regenwasser immer schlechter versickern und immer schneller in die Flüsse zurückfließen lässt. Und viertens der Klimawandel, der nicht nur in der Erwärmung der globalen Temperatur erfahrbar wird, sondern auch in immer schnelleren Wetterumschwüngen, meist verbunden mit Stürmen, gegen die nicht mehr rechtzeitig gewarnt und vorgesorgt werden kann. Wen kann es wundern, dass dergestalt beschleunigte und somit vergewaltigte Wasserkreisläufe eines Tages mit Wucht zurückschlagen?

Die Rache der Flüsse ist nur ein Beispiel dafür, dass die Natur sich gegen die menschlichen Eingriffe zur Wehr setzt. Die Enquete-Kommission des Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ stellt in ihrem Bericht des Jahres 2000 zusammenfassend fest: „Seit Mitte dieses Jahrhunderts haben Umweltbelastungen erkennbar ein globales Ausmaß angenommen. Ozonabbau, Treibhauseffekt, Dürre- und Hochwasserkatastrophen, Trinkwassermangel und Bodenerosion, Tropenwaldbrände und Artensterben – die Liste der Schlagwörter, die jedermann mit globalen Umweltproblemen verbindet, ließe sich fortsetzen. Es macht sich weltweit die Erkenntnis breit, dass das menschliche Leben und Wirtschaften an einem Punkt angelangt ist, an dem es Gefahr läuft, sich seiner natürlichen Lebensgrundlagen zu berauben. Gleichzeitig sind wir auf dem besten Weg, mit unserem verschwenderischen Naturverbrauch die Möglichkeiten der nachfolgenden Generationen einzuschränken.“[2]

Der Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen bezeichnet die Quellen und Senken des Naturhaushalts, die uns zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zur Verfügung stehen: einerseits fruchtbare Böden, Wasser, Bodenschätze etc., andererseits jene Orte, an denen wir die unbrauchbar gewordenen festen, flüssigen und gasförmigen Reste des Wirtschaftens wieder der Natur überlassen, also zum Beispiel Mülldeponien, Weltmeere oder die Erdatmosphäre. Wenn von der Gefahr der Erschöpfung von Quellen und Senken aufgrund von verschwenderischem Naturverbrauch die Rede ist, handelt es sich, wie am Wasserkreislauf deutlich erkennbar, im Kern ebenfalls um ein Beschleunigungs- und Erschöpfungsproblem: Das Tempo von Produktion und Konsum beginnt sich an vielen Stellen immer mehr von den Geschwindigkeiten und Rhythmen der Natur abzukoppeln.

Ganz besonders offensichtlich ist die Störung der natürlichen Kreisläufe bei der Basisressource der Industriekultur, bei Kohle und Erdöl. Diese Energielager, die letztlich aus gespeicherter Sonnenkraft bestehen, werden seit rund 200 Jahren in rasender Geschwindigkeit geplündert. In diesem Zeitraum hat die Menschheit rund die Hälfte aller fossilen Energiereserven, das Produkt von 300 Millionen Jahren Sonneneinstrahlung, verpulvert.[3] Die Entdeckung des „unterirdischen Waldes“, wie Rolf-Peter Sieferle die Energietanks unter der Erde treffend nennt,[4] und seine systematische „Abholzung“ im Interesse des High-Speed-Wirtschaftens, hat zu einer dramatischen ökologischen Kluft geführt: Heute verfeuern wir jeden Tag mehr fossile Energie, als die Natur in 1000, nach anderen Berechnungen sogar in 15.000 Jahren produziert hat.[5] Mit der zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft wird sich diese Abkoppelung zwischen Natur und Wirtschaft weiter verstärken, weil Industrialisierungszwänge zunehmen und Transportwege länger werden.

[1]: Süddeutsche Zeitung 17./18.8.2002. ↑

[2]: Deutscher Bundestag (2000) (Hg.), Stichwort Nachhaltigkeit. Die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt. Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ im 13. Deutschen Bundestag, Berlin, S. 1. ↑

[3]: Ervin Laszlo im Gespräch mit Dietmar Gottschalk, in: Ist die Menschheit noch zu retten?, Sonderdruck der Josef Schmidt Colleg GmbH (1993), Bayreuth, S. 4. ↑

[4]: Sieferle Rolf-Peter (1982), Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution, München. ↑

[5]: Die Zahl 1000 stammt von Laszlo, die Zahl 15.000 von Grimmel (Grimmel Eckhard (1993), Kreislauf und Kreislaufstörungen der Erde, Reinbek, S. 63). ↑