Zu: „Die Resonanzstrategie – warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen“. Auszug aus dem Mannheimer Morgen vom Samstag, 29.06.2019

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Aus: „Bildung contra Turboschule“ – Essay

Leseprobe
aus: „Bildung contra Turboschule“

Turboschule

Lehrer sind manchmal fies. Ein Studienrat eines bayerischen Gymnasiums legte einer achten Klasse einen Mathetest, der bereits geschrieben, korrigiert und besprochen war, in der darauf folgenden Stunde noch einmal vor. Der Test fiel schlechter aus als beim ersten Mal. Warum? Die Schüler hatten das Gelernte längst weggeworfen, „entsorgt“. Das dürfte kein Einzelfall sein. Eine im Sommer 2006 veröffentlichte PISA-Sonderauswertung für Mathematik und Naturwissenschaften in der 9. Jahrgangsstufe verschiedener Schularten ergab: Je nach Fach haben 40 bis 60 Prozent der Schüler innerhalb eines Jahres überhaupt nichts dazugelernt oder sogar Wissen und Können verloren.
Jene Bildung, die wir in unseren Schulen verabreichen, bleibt bei vielen Kindern offenbar nur wenig haften. Vor allem ab dem vierten Schuljahr, wenn der Wettlauf zum Gymnasium beginnt. Dies liegt ganz wesentlich an einem falschen Umgang mit Zeit. Die Schule versucht in aller Regel Bildung mit hohem Druck in die Köpfe der jungen Menschen zu pressen. Sie ist eine Turboschule. Mit der Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre wurde der Pressdruck ein weiteres Mal erhöht. Die Grundlagen jedoch sind längst gelegt.

Fastfood- und Wegwerfbildung

Um Zeit zu sparen, lässt sich die Turboschule einiges einfallen: Sie sortiert die Kinder in möglichst homogene Gruppen, sie stellt die Körper ruhig, sie definiert durch einen detaillierten Plan, was zu tun und zu lassen ist, sie organisiert den gesamten Betrieb als Wettrennen um künstlich knapp gehaltene gute Noten. Die unter Zeitdruck verabreichte Form von Bildung ist im Kern Fastfoodbildung. Es sind meist kleine, mundgerechte Häppchen, auf Arbeitsblättern und Folien didaktisch-methodisch gereinigt von allem, was irritieren könnte, vorgekocht und vorverdaut, oft ansprechend zurechtgemacht und zusätzlich angereichert mit didaktischen Lockstoffen – alles im 45-Minuten-Takt eingeflößt und möglichst schnell hinuntergeschluckt. Wenig Kauarbeit, unverzügliche Sättigung, kaum Ballaststoffe und bescheidener Nährwert. Wo eine größere Anzahl von Menschen mit Fastfood ernährt wird, entstehen bekanntlich schnell Müllberge. Auch Fastfoodbildung bringt viel überflüssiges hervor. Schüler stopfen sich vor Prüfungen möglichst viel Stoff hinein und spucken ihn anschließend schnell wieder aus. Das Fach Geschichte, in dem diese Praxis besonders verbreitet ist, wird im Fachjargon bisweilen auch „Klofach“ genannt. Gelernt wird vor allem für Noten, Punkte, Zeugnisse, für Tauschwerte also. „Dieses Blatt fragt sie bestimmt nicht ab, das haben wir in der Gruppe gemacht, das wäre voll ungerecht“, so eine 14-Jährige auf dem Weg zur Schule. Nicht ob ein Stoff interessant oder wichtig ist, sondern Risikokalküle, die auf Notenoptimierung zielen, steuern in der Regel das Lernverhalten. Die umgehende Löschung des Gelernten nach Verbuchung des Tauschwertes wird als befreiend empfunden. Der Speicher ist wieder bereit für die nächste Runde. Fortgeschrittene Gymnasiasten besuchen den Unterricht sowieso nur mehr dann, wenn es vom betriebswirtschaftlichen Kalkül her opportun erscheint. Dass so geartetes Lernverhalten nur zu einem höchst löchrigen Bildungsergebnis führen kann, liegt auf der Hand.
Der Zeitdruck der Turboschule zeigt sich an vielen Stellen. Wie oft fehlt die Zeit zur sinnlich-spielerischen Annäherung an Lerngegenstände, zum selbstständigen Erschließen von Themen, zur selbst organisierten Zusammenarbeit mit anderen, zum Wiederholen, Üben und Anwenden des Gelernten, zum kritischen Nachfragen und zur Entdeckung eigener Erkenntnisinteressen? Im Grunde sind Schüler ständig gezwungen, Antworten auf Fragen zu finden, die sie noch gar nicht gestellt haben. Da kann es nicht verwundern, wenn dauerhafte Bildung so oft auf der Strecke bleibt.

Fehler als Hindernisse

Wie der gegenwärtige Umgang mit Zeit dem Bildungsauftrag der Schule schadet, lässt sich gut am Umgang mit Fehlern studieren. Was geschieht genau, wenn im Rahmen des in weiterführenden Schulen vorherrschenden Unterrichts, dem so genannten „lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch“, der Lehrer eine Frage stellt? In aller Regel melden sich ein paar Schüler. Wenn die Antwort des zuerst Aufgerufenen nicht richtig war, kommt der Nächste, dann der Übernächste dran. Dazwischen gibt der Lehrer bestenfalls ein paar Hilfestellungen. Dann beantwortet er seine Frage meist selbst. Es dauert ihm einfach zu lang.
Wie aber werden die falschen Antworten genutzt? Wird überhaupt geprüft, warum eine Antwort in die Irre ging? Wo genau der Fehlschluss angesiedelt war oder welche Information falsch verstanden oder fehlerhaft gespeichert wurde? Dafür ist in der Regel keine Zeit. Die Fehler gehen in einem solchen Unterrichtsgespräch unter wie Schiffe im Bermudadreieck, bemerkt der Schweizer Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers treffend. Sie lassen sich, sind sie einmal verschwunden, nicht mehr rekonstruieren, aus ihnen kann nicht mehr gelernt werden.
Der Unterricht schreitet meist in kleinen, durch Fragen und Antworten strukturierten Schritten voran. Dies ist, so die Kieler Unterrichtsforscherin Tina Seidel, die den Physikunterricht an deutschen und japanischen Schulen miteinander verglichen hat, ein Charakteristikum des deutschen Unterrichts. In Japan probieren die Schüler der Untersuchung zufolge viel mehr herum, machen dabei zunächst jede Menge Fehler, sind dann aber eher in der Lage, in Prüfungssituationen selbstständig einen Weg zu finden. Und wer einmal selbst den Weg durch ein Labyrinth gefunden hat, kann Irrwege als solche markieren und muss sie beim nächsten Mal nicht wieder gehen.

Testeritis

Ein Unterricht, der als Wettlauf um die Vermeidung von Fehlern organisiert ist, zwingt den Schüler auf den Dauerprüfstand. Von den kinderärztlichen Reifetests führt der Weg über den Grundschulreifetest zu den diversen Möglichkeiten, die Gymnasialreife zu ermitteln. Dort ist der Unterricht dann mit Prüfungssituationen förmlich durchsät. Neueste Errungenschaft der Testfraktion unter den Bildungspolitikern sind Jahrgangsstufentests zu Schuljahresbeginn, angeordnet als Reaktion auf den PISA-Schock.
Heimlich, still und leise wird ein immer größerer Teil des Unterrichts zur Testvorbereitung. „Teaching for the test“ nennt man das in England. Je besser dort eine Schule in den regelmäßigen nationalen Vergleichstets abschneidet, desto weiter oben steht sie in den „School and College Achievement and Attainment Tables“, die jährlich wie Bundesliga-Tabellen vom Bildungsministerium veröffentlicht werden. Sie gelten als wichtiger Indikator für die Qualität von Schulen. Solche Schulrankings stehen auch uns bevor, zumal dann, wenn Schulen demnächst als private Unternehmen auf einem freien Markt ums Überleben kämpfen müssen.
All diese Tests dienen angeblich dazu, Schüler hinterher zielgerichteter fördern zu können. Vielleicht geschieht das zunächst auch. Aber die Tests verschieben als Nebenwirkung die Schwerpunkte des Unterrichts. Und was dann unter dem Strich herauskommt, ist ziemlich ungewiss. Ein Deutschlehrer wird sich z.B. zweimal Überlegen, ob er ein zusätzliches Jugendbuch mit seiner Klasse liest, ein kleines szenisches Spiel einschiebt, einen Film dreht – oder aber doch lieber noch ein paar Grammatikübungen als Testvorbereitung macht. Die Testergebnisse der eigenen Klasse könnten ja nicht nur Einfluss auf die Bildungs- und Berufschancen der Schüler, sondern auch auf die Karriere oder gar Weiterbeschäftigung des Lehrers haben. Der Schüler aber, zumal der schwächere, könnte vielleicht von einem zusätzlichen Jugendbuch mehr gehabt haben. Es hätte seine Lust zum Lesen entflammt und so langfristig auch seine schriftliche Sprachkompetenz verbessert. Es gibt sogar viele Hinweise darauf, dass Theaterspielen oder Musizieren die Schulleistungen in Mathe und Englisch mehr fördert als zusätzliche Mathe- und Englischstunden.

Erziehung zur „Lebensuntüchtigkeit“?

Fastfood ist in der Regel nicht besonders gesund, weder für den Körper noch für Seele und Geist. Allein schon die Narben, die der Schulbetrieb bei Schülern und Lehrern hinterlässt, müssen nachdenklich stimmen: Jeder fünfte Schüler leidet körperlich unter Schulstress, etliche werden darüber hinaus depressiv oder aggressiv, einige wenige implodieren oder explodieren. Und zwei von drei Lehrern sind durch ihre Arbeit gesundheitlich stark gefährdet, immer mehr landen in Burnout-Kliniken.
Welche Konsequenzen aber hat der auf Noten, Punkte und Rankingtabellen ausgerichtete Turbobetrieb für die Inhalte der Bildung? Die Turboschule mag zwar gute Arbeitstiere, Konsumsüchtlinge und Untertanen produzieren. Wie steht es aber um den viel zitierten mündigen Bürger, den kritischen, widerständigen, eigensinnigen, den verantwortungsbewussten und verantwortungsfreudigen Menschen? Bildung ist im Kern Erschließung der äußeren und inneren Welt des Menschen. Diese Welt ist heute tendenziell global, in ihr hängt fast alles mit allem zusammen. Auf einem enger werdenden Globus kann der Mensch als Gattungswesen nur überleben, wenn er zum vernetzten Denken befähigt und zur Anerkennung des Anderen, die auch die Übernahme von Verantwortung für ihn einschließt, bereit ist. Wenn nun aber die Turboschule die Welt in Fächer und Wissenshäppchen als Tauschmittel für den Kampf um gesellschaftliche Berechtigungsscheine zerreißt, wenn sie den Menschen zum Einzelkämpfer erzieht und wenn dies alles unter einem zunehmenden Zeitdruck stattfindet, könnte sich das auf längere Sicht als verhängnisvoll erweisen. Die Schule erzieht zur „Lebensuntüchtigkeit“, hatte bereits vor 30 Jahren der Münchner Biologe und Systemforscher Frederic Vester diagnostiziert.
Und noch etwas: Wenn die Turboschule Fehler als Hindernisse behandelt, bleibt die Produktivität des Fehlers ungenutzt. Dabei wäre es sinnvoll, im Unterricht möglichst viele Fehler zu provozieren, die Schüler gewissermaßen zum lauten Denken anzuregen. Denn erst durch Irrtum wird man wirklich klug. Versuch, Irrtum und Vielfalt – das sind die Bausteine der Evolution. Ihnen verdanken wir das Leben und die Kultur auf unserem Planeten. Bekanntlich sind Monokulturen von schnell wachsenden Bäumen nicht nur ästhetisch wenig anziehend, sondern ökologisch auch höchst störanfällig. Welchen Preis wird die Menschheit morgen für die Monokultur bezahlen, die in unseren Schulen durch lokale, nationale und globale Vergleichstests heute erzwungen wird?

Turboschule – nur ein Symptom des Turbolebens

Der Umgang mit Zeit bei der Ernährung des Geistes wie des Körpers ist symptomatisch für unser gesamtes Turboleben. Das Fastfood- und Wegwerfprinzip zielt auf die beschleunigte Steigerung von Produktion und Konsum. Was wäre die Alternative? Beim Konsumieren, Arbeiten und eben auch beim Lernen achtsamer mit Zeit umzugehen, einerseits mit der Zeit der natürlichen Lebensgrundlagen, andererseits mit der Zeit des Körpers, der Seele und des Geistes. Sich also nicht an den Programmzeiten der Ökonomie, sondern an den Eigenzeiten des Lebens zu orientieren. Jedes Kind braucht seine Zeit – damit es seine Neugierde, die ihm angeboren ist, pflegen, die Netze, die sein Leben tragen, begreifen, den Platz, der ihm in der Gesellschaft zusteht, finden und die Verantwortung, die es für andere und sich selbst trägt, übernehmen kann. Reformpädagogisch ausgerichtete Schulen beweisen seit Langem, dass solche Erkenntnisse nicht bloße Theorie bleiben müssen.
Vielleicht sollten wir uns an den Ursprung des Wortes „Schule“ erinnern: an „scola“, die Zeit, in der im mittelalterlichen Klosterleben die Arbeit ruhte, die Mußestunden also. Je mehr heute die allgemeine Beschleunigung zunimmt, desto wichtiger wird ein Ort, an dem das Innehalten gelernt werden kann. Eine entschleunigte Schule als wichtiger Beitrag zur Selbstkultivierung des Menschen (Kant). Genau diese Fähigkeit zum Innehalten und Prüfen ist es nämlich, die den Menschen aus der Welt der Tiere heraushebt und Voraussetzung für seinen prinzipiell freien Willen ist.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 1. »Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex«

1. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hat an alle Ehepartner appelliert, sich vom weit verbreiteten Termindruck zu befreien und so mehr Zeit auch für Sexualität zu finden. In einer Gesellschaft, in der häufig schon Kinder Terminkalender benutzen, müssten die Menschen ein ’neues Zeitgefühl‘ entwickeln, das mehr Gelegenheit biete für ‚Kommunikation und Streitkultur, für Religion und Spiritualität, aber auch für mehr Intimität und Sexualität‘, heißt es in der Mitteilung der Pressestelle.“[1]

Eine bemerkenswerte Meldung vom 13.1.2000. Bemerkenswert nicht nur, weil es die katholische Kirche ist, die zu mehr Sex aufruft. Bemerkenswert ist diese Pressemitteilung des Erzbischofs vor allem aus einem anderen Grund: Dass Sex meist Spass macht, entspannend und gesund ist und vermutlich sogar unser Leben verlängert, liegt bekanntlich an der physischen und psychischen Grundausstattung des Menschen, die er während seiner unvorstellbar langen Entwicklungsgeschichte erworben hat. Dass wir heute zur Nutzung dieser segensreichen Mitgift extra aufgefordert werden müssen zeigt, wie zweifelhaft die Art von Fortschritt offenbar ist, der sich unsere Gesellschaft verschrieben hat. Diese Gesellschaft, die sich selbst gern als „modern“, „hoch entwickelt“ und „aufgeklärt“ bezeichnet, folgt nämlich einem recht merkwürdigen Programm. Dieses Programm treibt uns im Laufe unseres Lebens dazu an, dass wir auf unserer Suche nach Wohlbefinden und Glück eine Unmenge von Energie und Zeit fürs Geldverdienen und Geldausgeben aufwenden. Und dieses Programm hat uns im Laufe der Menschheitsgeschichte einen gigantischen technischen Fortschritt und, damit einhergehend, ungeheure Möglichkeiten und Zeitgewinne beschert.

Aber dieses Programm sorgt zugleich offenbar dafür, dass wir uns diese Gewinne immer wieder abjagen lassen. Ein Programm also, das dafür verantwortlich ist, dass uns am Ende der rastlosen Suche nach kostspieligen äußeren Genussquellen nicht einmal mehr Zeit bleibt für die Nutzung jener Quelle, die Gott oder die Evolution in unser Inneres gratis eingebaut hat.

[1]: Auf Nachfrage legte die Pressestelle Wert darauf, dass es in der Originalmitteilung „auch“ für Intimität und Sexualität und der „Ehepartner“ heißt.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 2. Zeit-Sparen

Von Paradoxien und Fallen der Beschleunigung

2. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Wir sind unablässig bemüht Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal Zeit sparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, wir fahren mit Hochleistungslimousinen, wir kommunizieren mit Handys und Internet, wir produzieren auf Roboterstraßen usw. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitäten behindert werden könnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten, verkürzen die Sperrstunden und locken bereits im Spätherbst mit Schoko-Nikoläusen und im Spätwinter mit Schoko-Osterhasen. Wir ernähren uns im Winter von eingeflogenen Sommerfrüchten. Viele machen im Sommer Winterurlaub und im Winter Sommerurlaub. Wir tun längst mehrere Dinge gleichzeitig, wir entwickeln uns zum „Simultanten“, wie der Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler diesen Sozialcharakter treffend nennt.[1] Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus und manche kaufen und verkaufen angeblich ihre Aktien während des Mittagessens.

Aber bei all dem Bemühen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt. Wann werde ich den Zeitdruck wirklich los? Wann verschwindet die Uhr aus meinem Hinterkopf? Wann bin ich endlich ganz bei mir? Wächst nicht sogar mit dem Bemühen um effiziente Kontrolle und Nutzung der Zeit oft sogar der Berg nicht erledigter Aufgaben und nicht ausgeführter Pläne? Vermehrt sich beim Kampf gegen die zerrinnende Zeit nicht manchmal sogar der Stress?

Schlimmer noch: Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass unser Umgang mit Zeit noch viel weiter reichende Folgen hat. Aus der Physik des Alltags wissen wir, dass Beschleunigungsphasen nicht nur mit einem besonders hohen Energieaufwand einher gehen, sondern mit dem Tempo eines bewegten Körpers auch dessen Steuerung schwieriger wird. So kann eigentlich nicht verwundern, dass die Beschleunigung mit einer fatalen Zwangsläufigkeit immer wieder Rückschläge produziert: Beschleunigungsfallen.[2] Wer zu schnell fährt, der landet schnell im Graben. Wer sich nicht Zeit zum Nachdenken nimmt, der macht schnell einen Fehler. Und wer Raubbau an seinem Körper und seiner Seele treibt und rücksichtslos mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt umgeht, der kann eines Tages eine saftige Rechnung präsentiert bekommen. Beschleunigungsfallen werfen uns hinter jenen Punkt zurück, von dem aus wir ursprünglich schneller werden wollten. Das Jagen und Hetzen von Menschen, Tieren, Pflanzen und die Missachtung ökologischer Kreisläufe führt nicht selten zur Erschöpfung und am Ende zum plötzlichen Ausbruch enormer Zerstörungspotenziale mit oft tödlichen Konsequenzen.

[1]: Geißler Karlheinz A.(2002), Der Simultant, in: PSYCHOLOGIE HEUTE, Heft 11, S. 30-35. ↑

[2]: Backhaus Klaus / Bonus Holger (1994) (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 3. Schullaufbahn

Lernen im Laufschritt – und was dabei auf der Strecke bleibt

3. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Ich bin doch noch nicht fertig!“, protestiert der kleine Hans, als ihm der Lehrer das Blatt abnimmt. Sein Protest verhallt. Leistung ist Arbeit pro Zeit, und zum Zwecke der Leistungsmessung muss die Zeit eben künstlich verknappt werden.

Nicht nur bei Leistungstests werden Kinder und Jugendliche in der Schule systematisch unter Zeitdruck gesetzt. Der Lehrer und Erziehungswissenschaftler Bruno Posod, der die Aussagen von insgesamt 1400 Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern ausgewertet hat, kommt zu einem vernichtenden Urteil: 45 Prozent der 14- bis 19-jährigen Schülerinnen und Schüler verspüren „oft“ oder sogar „immer“ Zeitnot im Zusammenhang mit schulischer Arbeit. 70 Prozent gaben an, auf ihre individuellen Zeitbedürfnisse werde in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder „nie“ Rücksicht genommen. Und 95 Prozent berichteten, dass sie in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder sogar „nie“ lernen, auf ihre Gefühle zu achten bzw. diese auszudrücken.[1] Zu viel Stoff und zu wenig Zeit – darin waren sich fast alle befragten Schüler, die meisten Eltern und auch viele Lehrer einig. Erziehung zur Schnelligkeit scheint eine der zentralen Wirkungen, vielleicht sogar zentrales Ziel von Schule zu sein. Posod sieht in der einseitigen Schnelligkeitsorientierung eine Gefahr, weil dadurch die Fähigkeit zum genauen Wahrnehmen, zum Nachdenken über das Wahrgenommene, zur intensiven Durchdringung, zum Überprüfen und Bewerten des Gelernten zu kurz kommt. Dies mag Schülern, Eltern und Lehrern zwar nicht bewusst werden, ist aber dennoch charakteristisch dafür, was die Schullaufbahn den Kindern zumutet und vorenthält.

Das Lernen im Laufschritt hat weitere Konsequenzen. Der Zeitdruck lässt oft nicht einmal zu, das Gelernte zu wiederholen, zu üben oder gar anzuwenden. So bleibt den Kindern das eigentlich wohl verdiente Erfolgserlebnis, welches Lernprozesse abschließen sollte und zu neuem Lernen motivieren kann, verwehrt. Zeitdruck verhindert, dass Themen von mehreren Seiten aus beleuchtet werden, wodurch sie in der Regel erst wirklich interessant werden. Aus Zeitdruck bleiben die Kinder sich selbst überlassen, wenn es darum geht, aus der Vielzahl der Fächer ein einheitliches Bild von der Welt zu konstruieren. Zeitdruck ist dafür verantwortlich, dass aufkeimendes Interesse an bestimmten Themen nicht weiter berücksichtigt und damit sofort wieder erstickt wird. Eltern und Lehrer wundern sich dann, wenn Schüler von Schuljahr zu Schuljahr immer passiver und uninteressierter werden. Und hinterher beschweren sich Arbeitgeber und Hochschullehrer darüber, dass Schulabgänger den Anforderungen von Arbeitswelt und Universität nicht genügen.

Nicht nur der Geist, auch der Körper nimmt schaden unter dem Diktat des Tempos in der Schule. Das beginnt dort, wo der natürliche Bewegungsdrang der Kinder gebrochen wird, wo man Kinder und Jugendliche fünf, sechs, bisweilen acht oder zehn Schulstunden auf harte Stühle zwängt, sie zum Stillschweigen verdammt und natürliche Widerstandsreaktionen als Unterrichtsstörungen bestraft. Das alles nur, um den Kindern schneller etwas eintrichtern zu können. Hier kann nicht nur die sich oft im Bewegungsdrang ausdrückende natürliche Neugierde der Kinder bereits irreversibel geschädigt werden. Hier wird auch die Grundlage für die spätere Volkskrankheit Nummer eins, die chronischen Rückenschmerzen, nicht selten mit Bandscheibenvorfällen einhergehend, gelegt.

Wenn Kinder ihre natürlichen körperlichen Bedürfnisse und ihre persönlichen Gefühle quasi an der Schultüre abgeben müssen, so dürfte dies für die Einstellung der Kinder zum Lernen, zur Bildung, zu kulturellen Werten insgesamt nicht besonders förderlich sein. Sie gewöhnen sich daran, auch ohne innere Beteiligung einfach zu funktionieren. So wird die Schule zu jenem Ort, an dem junge Menschen vor allem lernen, sich anzupassen, eine Rolle perfekt zu spielen, sich von sich selbst zu entfremden. Das, was eigentlich wichtig ist im Leben, findet für sie woanders statt. Längst haben wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schule“ vergessen: „Schule“, abgeleitet vom lateinischen „scola“, stand einst für die Mußestunden im Klosterleben, also in jener Institution, die im Mittelalter für Bildung und Erziehung zuständig war. Wenn dann ein Schüler explodiert, wie vor eineinhalb Jahren in Erfurt und vor einem halben Jahr in Coburg geschehen, wird schlaglichtartig bewusst, dass das Lernen im Laufschritt bisweilen einen hohen Preis erfordert.

[1]: Posod Bruno (1997), Schulzeit – Zeitschule. Ein Beitrag zu einem anderen Umgang mit Zeit, Wien, S. 161.↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 4. Hauptsache schnell und flexibel

Wie wir zum Homo Oeconomicus konditioniert werden

4. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Das japanische Erziehungsministerium hat Computerprogramme für Kindergartenkinder entwickeln lassen. Sie eignen sich für Kinder ab dem 30. Lebensmonat, verspricht der Prospekt den Eltern.[1] Frühförderung heißt also das Motto. Wer mit 30 Jahren zur Elite gehören soll, muss mit drei Jahren das Training beginnen. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Japan. In Deutschland hat ein dynamischer Unternehmer ein „Beton-Grabkammer-System“ auf den Markt gebracht. Es fördert den Verwesungsprozess des Leichnams. Spätförderung ist hier die Devise. Mit diesem System, so der Anbieter, lässt sich die derzeitige „Ruhezeit“ von 15 bis 20 Jahren auf 10 Jahre verkürzen.[2] Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur optimalen Flächennutzung . Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Schnell einsteigen, schnell ausrangieren! Dieses Erfolgsrezept hat Zukunft, zumindest in allen Ländern, die sich als „hoch entwickelt“ bezeichnen. Zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, in dem es immer mehr vor allem auf eine Tugend ganz entscheidend ankommt: die Fähigkeit, schnell und flexibel zu sein.

Schnelligkeit bezieht sich dabei auf das Tempo der Bewältigung von Aufgaben aller Art, die von außen gestellt werden: Schnell studieren, schnell Karriere machen, schnell Haus bauen und abzahlen, dazwischen schnell noch Kinder in die Welt setzen usw. Und Flexibilität zielt auf die Bereitschaft, sich diese Aufgaben jeweils auch zu eigen zu machen, sich an sie optimal anzupassen und sich dabei fast beliebig verbiegen zu lassen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch „The Corrosion of Character“, dessen deutsche Ausgabe den bezeichnenden Titel „Der flexible Mensch“ trägt, gezeigt, wie Zeit- und Flexibilitätsdruck auf eine oft unbemerkte Weise die gesamte Lebensführung des Menschen steuert. „Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in 40 Arbeitsjahren wenigstens 11mal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen.“[3] Beruf, Wohnort, soziale Stellung, Familie – alles ist den schnell wechselnden und kaum voraussehbaren Anforderungen des Wirtschaftslebens unterworfen. Die Folge davon: Das Leben wird zu einem ziellosen und immer schwerer durchschaubaren Stückwerk. Dabei wird Vieles plötzlich zum Flexibilisierungshindernis, was bisher als Kennzeichen eines erfüllten Lebens galt: die vertraute Nachbarschaft, feste Freundschaften und nicht zuletzt ein fester Charakter. Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein, bring keine Opfer! So lauten die Maximen eines flexiblen Lebens.[4]

Am unmittelbarsten zeigen sich die Flexibilisierungszwänge in der Arbeitswelt selbst. In einem Aufsatz des Arbeitsmarktexperten Karl Hinrich heißt es treffend: „Bei allen Zielsetzungen der Arbeitszeitflexibilisierung geht es den Betrieben darum, eine nach Dauer und Zeitpunkt beliebig abrufbare sowie dem Rhythmus des Betriebsgeschehens angepasste Nutzung der Arbeitskraft ´wie aus dem Wasserhahn´zu verwirklichen.“[5] Um auch psychologisch über die Arbeitskraft der Arbeitnehmer zu verfügen und optimale Anpassungsergebnisse an wechselnden Arbeitssituationen zu gewährleisten, wird das Personalmanagement mit Hilfe von Methoden, die wir aus Diktaturen bestens kennen, auf Vordermann gebracht. Die Mitarbeiter müssen sich auf Leitbilder und „Credos“ verpflichten. In einem solchen Credo, das für die Fortbildung von Klinikpersonal entwickelt wurde, heißt es zum Beispiel: „Wir sind höflich am Telefon und melden uns innerhalb von drei Klingeltönen mit einem Lächeln.“ Oder: „Wir identifizieren uns mit den Zielen des Unternehmens und sind ihm gegenüber loyal“, denn „der Patient ist unser Arbeitgeber“.[6] Das ist Gehirnwäsche, die sich offenbar nicht gar zu tarnen braucht. Der flexible Arbeitnehmer muss ein für allemal das Bewusstsein davon aufgeben, dass seine Interessen nicht von vornherein identisch sind mit denen seines wirklichen Arbeitgebers sind.

Das Prinzip „Hauptsache flexibel“ prägt die gesamte Lebensplanung des Menschen. Die ganze Gesellschaft wird „verwirtschaftet“ und damit geht eine „Menschenverachtung“ einher, die sich als „Liberalisierung“ „maskiert“, stellt Norbert Blüm treffend fest.[7] Bereits die Gründung einer Familie erweist sich als enormes Flexibilitätshindernis. Die Zeit, die Menschen für Familie und Kinder benötigen, fehlt dort, wo berufliche Notwendigkeiten wie Aus- und Fortbildungen, Dienstreisen oder auch nur das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsstätte unsere Lebenszeit beanspruchen. Die meisten Berufspendler empfinden das als Zwang, der nur Nachteile mit sich bringt, sie sind nicht freiwillig mobil.[8] Sie klagen über Zeitmangel, den Verlust von sozialen Kontakten und die Entfremdung vom Partner und von den Kindern. Dem entsprechend ist auch die Zeit, die Eltern, vor allem Väter, mit ihren Kindern verbringen, nach Auskunft der Statistik dürftig bemessen: Im Durchschnitt beschäftigen sich Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern 10 Minuten pro Tag. 10 Minuten spielen sie mit ihren Kindern, treiben Sport mit ihnen oder gehen auch nur mit ihnen spazieren.[9] Drücken wir es etwas deutlicher aus: Der Tag hat 24 Stunden. Für die Kinder bleibt davon genau ein Hundertvierundvierzigstel!

Die flexible Gesellschaft bringt überhaupt recht interessante Formen der Kommunikation und des Umgangs mit Traditionen hervor. Seit einiger Zeit gibt es zum Beispiel die Institution des „Speed Dating“ zur effektiven Partnersuche: Sieben Männer und sieben Frauen sitzen sich in einer Kneipe sieben Minuten lang gegenüber und entscheiden dann, mit wem sie sich wieder treffen wollen und mit wem nicht.[10] Alle Gewohnheiten müssen heute auf den Flexibilisierungsprüfstand. Der Flexibilitätssteigerung dient zum Beispiel auch die schrittweise Abschaffung der letzten Feiertage, die es noch gibt. Aus Börsianer-Kreisen hören wir schon den Vorschlag, alle Feiertage bis auf den ersten Weihnachtsfeiertag und den Neujahrstag abzuschaffen.[11] Und auch die Kirche muss sich in einer flexiblen Welt offenbar zur Dienstleistungseinrichtung entwickeln, zunehmend pragmatisch mit Traditions- und Glaubensfragen umgehen und sich der Methoden der Spaßgesellschaft bedienen: Pfarrer wetteifern um den Weltrekord im Dauerpredigen, der derzeit bei 28 Stunden und 45 Minuten liegt.[12] Und der Inhaber eines Beerdigungsinstituts in der Autostadt Detroit veranstaltet eine sogenannte „Drive-in-Trauer“, die es erlaubt, in nur 30 Sekunden Abschied von dem Toten zu nehmen, wobei nach Auskunft des Unternehmers sogar zwei Leichen gleichzeitig betrachtet werden können.[13]

[1]: Vogel Wolf (1992), „Dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind!“, in: DIE DEMOKRATISCHE SCHULE, Heft 9, S. 11 f. ↑

[2]: DER SPIEGEL 37/1993, S. 109. ↑

[3]: Sennett Richard (1998), The Corrosion of Character, New York (zitiert nach der deutschen Ausgabe: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter, Berlin 2000, S. 25). ↑

[4]: Sennett 1998, a.a.O., S. 37 f. ↑

[5]: Hinrichs Karl (1992), Die Zukunft der Arbeitszeitflexibilisierung. Arbeitnehmerpräferenzen, betriebliche Interessen und Beschäftigungswirkungen, in: SOZIALE WELT, Heft 43, S. 313-330, hier S. 322. ↑

[6]: Persönliche Mitteilung. ↑

[7]: Süddeutsche Zeitung 21.3.2002 ↑

[8]: Einer Studie der Universität Mainz über Berufspendler zufolge ist in Deutschland bereits jeder sechste Berufstätige, der in einer Partnerschaft lebt, aus beruflichen Gründen mobil. 42 Prozent der befragten Männer und 69 Prozent der Frauen empfinden den Zwang zur beruflichen Mobilität als hemmend für die Gründung einer Familie (Süddeutsche Zeitung 29.8.2001). ↑

[9]: Presseinformation Mehr Zeit für Kinder e.V. v. 6.9.2000. ↑

[10]: DER SPIEGEL 12/01, S. 209. ↑

[11]: Süddeutsche Zeitung 30.12.1998. ↑

[12]: Neue Presse Coburg 2.7.2001. ↑

[13]: Frankfurter Rundschau 2.8.1986. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 5. Gefangen im Hamsterrad

Aber die Hamster sind klüger

5. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Geld verdienen und Geld ausgeben, und Beides möglichst schnell und pausenlos, damit man in der Konkurrenz nicht zurückfällt – dieses Leben des so genannten modernen Menschen wird gern mit dem Leben des Hamsters im Hamsterrad verglichen. Hamsterräder sind zunächst nur harmlose Spielzeuge für Nagetiere. Was haben diese Spielzeuge der Hamster mit den Technologien, Institutionen und Verhaltenszwängen der Menschen in der modernen Gesellschaft gemeinsam?

Erstens macht es den Hamstern offenbar immer wieder Spaß, in das Rad zu steigen und loszutreten, vielen Menschen auch. Dies aber ist die schwächste Seite unseres Vergleichs. Bezeichnender ist schon, dass zweitens die Hamster bei all ihrer Treterei nicht vom Fleck kommen, wie auch Menschen ganz oft das Gefühl haben, trotz riesigen Energie- und Zeitaufwands nur auf der Stelle zu treten. Wenn das Hamsterrad dann einmal in Fahrt gekommen ist, heißt es drittens: Mithalten! Besonders für Nachzügler, die noch dazusteigen, ist das keine ungefährliche Angelegenheit. Da kann man leicht den Tritt verfehlen und unsanft auf Rücken oder Bauch landen. Das gilt für Hamster und für Menschen.

Noch etwas fällt auf: Die Physik des Hamsterrades ist eine ziemlich hinterhältige Physik: Je schneller man in ihm tritt, desto schneller dreht sich das Rad. Und je schneller sich das Rad dreht, desto schneller müssen diejenigen, die sich in seinem Inneren befinden, treten. Das Hamsterrad hat also eine eingebaute positive Rückkoppelung. In diesem Punkt unterschiedet sich das Hamsterrad von der alten Tretmühle, bei der es genau um die Konstanz der Geschwindigkeit ging, mit der zum Beispiel Lasten gehoben werden sollten. Der Witz ist nun, dass die Hamster offenbar klüger mit dieser Rückkoppelung umgehen als die Menschen. Wenn die Hamster keine Lust mehr haben, steigen sie aus. Die Menschen tun das meistens nicht. Dieser Rückkoppelungsprozess, der das Rad immer schneller und das Treten immer anstrengender werden lässt, begegnet uns in der Welt des schulischen Lernens, des Arbeitens, des Konsumierens etc. überall dort, wo die erwarteten Gütestandards mit den erbrachten Leistungen ständig zunehmen. Die Menschen treten im Hamsterrad also nicht nur allzu oft auf der Stelle, sondern sie tun dies zudem noch mit steigendem Aufwand.

Aber glücklicherweise gibt es jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung bewahren wollen. Ihre Fluchtwege und Notausstiege aus dem Hamsterrad lauten: kluges Zeitmanagement, Mut zum einfacheren Leben mit weniger materiellem Konsum, Teilzeitarbeit, Sabbatjahre usw. Nur bleiben angesichts solcher Ratschläge immer wieder offene Fragen: In welchen Lebensbereichen sind wir überhaupt Herren unserer Zeit? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele, die unter dem Hamsterrad leiden, gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, der wird oft über kurz oder lang umso mehr strampeln müssen, wird in vielen Fällen schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.

Wenn der individuelle Fluchtweg in eine Sackgasse führt, bleibt immer noch ein zweiter: ein kollektiver. Als Menschen haben wir eine Möglichkeit, welche den Hamstern verschlossen ist: Wir können prüfen, ob wir das Rad nicht gemeinsam und koordiniert verlassen und so die rasende Fahrt in die globale Erschöpfung beenden können. Diese Prüfung erfordert einige Fragen: Wer hat uns das Hamsterrad eigentlich hingestellt? Gott? Die Natur? Bestimmte Mitmenschen, die uns keine Ruhe gönnen? Haben wir es uns gar selbst gebastelt? Die Antworten auf diese Fragen münden in mehr als persönliche Zeithygiene: in Zeitpolitik. Zeitpolitik erleichtert es den Menschen systematisch, mit sich, ihren Mitmenschen und den natürlichen Lebensgrundlagen rücksichtsvoller umzugehen – und das heißt in vielen Fällen, ihnen mehr Zeit und Ruhe zu lassen.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 6. Das Signal von Dresden

Die Rache der Natur

6. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„So schnell ist das Wasser noch nie geflossen“, meinte eine Dresdnerin gegenüber dem Reporter der Süddeutschen Zeitung.[1] In Sachsen, Tschechien und Österreich werden im August 2002 an etlichen Stellen Pegelstände erreicht, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat. Für Teile Sachsens sind zwölf Jahre „Aufbau Ost“ dem Wasser zum Opfer gefallen. Bisher wurden solche Naturkatastrophen meist nur aus anderen Erdteilen gemeldet, zum Beispiel aus Bangladesch, wo eine Flut im Jahr 1991 innerhalb von wenigen Tagen Hunderttausenden das Leben gekostet hat, ohne dass dies in Europa sonderlich für Aufregung gesorgt hätte. Doch nun ist die Sintflut direkt vor unserer Haustür. Noch vor wenigen Jahren wurde angesichts solcher Ereignisse noch ernsthaft diskutiert, ob der Mensch an ihnen schuld sei. Heute gehen die für solche Katastrophen zuständigen Wissenschaftler nahezu einhellig davon aus, dass es sich hierbei um größtenteils vom Menschen gemachte Katastrophen handelt.

Auch über die Liste der Fehler der Vergangenheit gibt es einen weitgehenden Konsens: Erstens die Begradigung von Flüssen und die Zuschüttung von Rückhaltebecken, welche die Fahrtrinne für die Schiffe vertiefen und die Fließgeschwindigkeit des Wassers erhöhen sollte. Zweitens die Gewinnung von zusätzlicher Siedlungsfläche, welche dem Fluss gewaltsam abgetrotzt wurde, quasi als Gratis-Nebenprodukt der Beschleunigung der Flüsse. Drittens die Bodenversiegelung durch Beton-, Teer- und Pflasterflächen sowie die Bodenverdichtung durch schwere landwirtschaftliche Maschinen, die das Regenwasser immer schlechter versickern und immer schneller in die Flüsse zurückfließen lässt. Und viertens der Klimawandel, der nicht nur in der Erwärmung der globalen Temperatur erfahrbar wird, sondern auch in immer schnelleren Wetterumschwüngen, meist verbunden mit Stürmen, gegen die nicht mehr rechtzeitig gewarnt und vorgesorgt werden kann. Wen kann es wundern, dass dergestalt beschleunigte und somit vergewaltigte Wasserkreisläufe eines Tages mit Wucht zurückschlagen?

Die Rache der Flüsse ist nur ein Beispiel dafür, dass die Natur sich gegen die menschlichen Eingriffe zur Wehr setzt. Die Enquete-Kommission des Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ stellt in ihrem Bericht des Jahres 2000 zusammenfassend fest: „Seit Mitte dieses Jahrhunderts haben Umweltbelastungen erkennbar ein globales Ausmaß angenommen. Ozonabbau, Treibhauseffekt, Dürre- und Hochwasserkatastrophen, Trinkwassermangel und Bodenerosion, Tropenwaldbrände und Artensterben – die Liste der Schlagwörter, die jedermann mit globalen Umweltproblemen verbindet, ließe sich fortsetzen. Es macht sich weltweit die Erkenntnis breit, dass das menschliche Leben und Wirtschaften an einem Punkt angelangt ist, an dem es Gefahr läuft, sich seiner natürlichen Lebensgrundlagen zu berauben. Gleichzeitig sind wir auf dem besten Weg, mit unserem verschwenderischen Naturverbrauch die Möglichkeiten der nachfolgenden Generationen einzuschränken.“[2]

Der Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen bezeichnet die Quellen und Senken des Naturhaushalts, die uns zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zur Verfügung stehen: einerseits fruchtbare Böden, Wasser, Bodenschätze etc., andererseits jene Orte, an denen wir die unbrauchbar gewordenen festen, flüssigen und gasförmigen Reste des Wirtschaftens wieder der Natur überlassen, also zum Beispiel Mülldeponien, Weltmeere oder die Erdatmosphäre. Wenn von der Gefahr der Erschöpfung von Quellen und Senken aufgrund von verschwenderischem Naturverbrauch die Rede ist, handelt es sich, wie am Wasserkreislauf deutlich erkennbar, im Kern ebenfalls um ein Beschleunigungs- und Erschöpfungsproblem: Das Tempo von Produktion und Konsum beginnt sich an vielen Stellen immer mehr von den Geschwindigkeiten und Rhythmen der Natur abzukoppeln.

Ganz besonders offensichtlich ist die Störung der natürlichen Kreisläufe bei der Basisressource der Industriekultur, bei Kohle und Erdöl. Diese Energielager, die letztlich aus gespeicherter Sonnenkraft bestehen, werden seit rund 200 Jahren in rasender Geschwindigkeit geplündert. In diesem Zeitraum hat die Menschheit rund die Hälfte aller fossilen Energiereserven, das Produkt von 300 Millionen Jahren Sonneneinstrahlung, verpulvert.[3] Die Entdeckung des „unterirdischen Waldes“, wie Rolf-Peter Sieferle die Energietanks unter der Erde treffend nennt,[4] und seine systematische „Abholzung“ im Interesse des High-Speed-Wirtschaftens, hat zu einer dramatischen ökologischen Kluft geführt: Heute verfeuern wir jeden Tag mehr fossile Energie, als die Natur in 1000, nach anderen Berechnungen sogar in 15.000 Jahren produziert hat.[5] Mit der zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft wird sich diese Abkoppelung zwischen Natur und Wirtschaft weiter verstärken, weil Industrialisierungszwänge zunehmen und Transportwege länger werden.

[1]: Süddeutsche Zeitung 17./18.8.2002. ↑

[2]: Deutscher Bundestag (2000) (Hg.), Stichwort Nachhaltigkeit. Die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt. Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ im 13. Deutschen Bundestag, Berlin, S. 1. ↑

[3]: Ervin Laszlo im Gespräch mit Dietmar Gottschalk, in: Ist die Menschheit noch zu retten?, Sonderdruck der Josef Schmidt Colleg GmbH (1993), Bayreuth, S. 4. ↑

[4]: Sieferle Rolf-Peter (1982), Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution, München. ↑

[5]: Die Zahl 1000 stammt von Laszlo, die Zahl 15.000 von Grimmel (Grimmel Eckhard (1993), Kreislauf und Kreislaufstörungen der Erde, Reinbek, S. 63). ↑