Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 2. Zeit-Sparen
Von Paradoxien und Fallen der Beschleunigung
2. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:
Wir sind unablässig bemüht Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal Zeit sparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, wir fahren mit Hochleistungslimousinen, wir kommunizieren mit Handys und Internet, wir produzieren auf Roboterstraßen usw. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitäten behindert werden könnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten, verkürzen die Sperrstunden und locken bereits im Spätherbst mit Schoko-Nikoläusen und im Spätwinter mit Schoko-Osterhasen. Wir ernähren uns im Winter von eingeflogenen Sommerfrüchten. Viele machen im Sommer Winterurlaub und im Winter Sommerurlaub. Wir tun längst mehrere Dinge gleichzeitig, wir entwickeln uns zum „Simultanten“, wie der Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler diesen Sozialcharakter treffend nennt.[1] Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus und manche kaufen und verkaufen angeblich ihre Aktien während des Mittagessens.
Aber bei all dem Bemühen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt. Wann werde ich den Zeitdruck wirklich los? Wann verschwindet die Uhr aus meinem Hinterkopf? Wann bin ich endlich ganz bei mir? Wächst nicht sogar mit dem Bemühen um effiziente Kontrolle und Nutzung der Zeit oft sogar der Berg nicht erledigter Aufgaben und nicht ausgeführter Pläne? Vermehrt sich beim Kampf gegen die zerrinnende Zeit nicht manchmal sogar der Stress?
Schlimmer noch: Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass unser Umgang mit Zeit noch viel weiter reichende Folgen hat. Aus der Physik des Alltags wissen wir, dass Beschleunigungsphasen nicht nur mit einem besonders hohen Energieaufwand einher gehen, sondern mit dem Tempo eines bewegten Körpers auch dessen Steuerung schwieriger wird. So kann eigentlich nicht verwundern, dass die Beschleunigung mit einer fatalen Zwangsläufigkeit immer wieder Rückschläge produziert: Beschleunigungsfallen.[2] Wer zu schnell fährt, der landet schnell im Graben. Wer sich nicht Zeit zum Nachdenken nimmt, der macht schnell einen Fehler. Und wer Raubbau an seinem Körper und seiner Seele treibt und rücksichtslos mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt umgeht, der kann eines Tages eine saftige Rechnung präsentiert bekommen. Beschleunigungsfallen werfen uns hinter jenen Punkt zurück, von dem aus wir ursprünglich schneller werden wollten. Das Jagen und Hetzen von Menschen, Tieren, Pflanzen und die Missachtung ökologischer Kreisläufe führt nicht selten zur Erschöpfung und am Ende zum plötzlichen Ausbruch enormer Zerstörungspotenziale mit oft tödlichen Konsequenzen.
[1]: Geißler Karlheinz A.(2002), Der Simultant, in: PSYCHOLOGIE HEUTE, Heft 11, S. 30-35. ↑
[2]: Backhaus Klaus / Bonus Holger (1994) (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart. ↑