Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 1. »Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex«
1. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:
„Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hat an alle Ehepartner appelliert, sich vom weit verbreiteten Termindruck zu befreien und so mehr Zeit auch für Sexualität zu finden. In einer Gesellschaft, in der häufig schon Kinder Terminkalender benutzen, müssten die Menschen ein ’neues Zeitgefühl‘ entwickeln, das mehr Gelegenheit biete für ‚Kommunikation und Streitkultur, für Religion und Spiritualität, aber auch für mehr Intimität und Sexualität‘, heißt es in der Mitteilung der Pressestelle.“[1]
Eine bemerkenswerte Meldung vom 13.1.2000. Bemerkenswert nicht nur, weil es die katholische Kirche ist, die zu mehr Sex aufruft. Bemerkenswert ist diese Pressemitteilung des Erzbischofs vor allem aus einem anderen Grund: Dass Sex meist Spass macht, entspannend und gesund ist und vermutlich sogar unser Leben verlängert, liegt bekanntlich an der physischen und psychischen Grundausstattung des Menschen, die er während seiner unvorstellbar langen Entwicklungsgeschichte erworben hat. Dass wir heute zur Nutzung dieser segensreichen Mitgift extra aufgefordert werden müssen zeigt, wie zweifelhaft die Art von Fortschritt offenbar ist, der sich unsere Gesellschaft verschrieben hat. Diese Gesellschaft, die sich selbst gern als „modern“, „hoch entwickelt“ und „aufgeklärt“ bezeichnet, folgt nämlich einem recht merkwürdigen Programm. Dieses Programm treibt uns im Laufe unseres Lebens dazu an, dass wir auf unserer Suche nach Wohlbefinden und Glück eine Unmenge von Energie und Zeit fürs Geldverdienen und Geldausgeben aufwenden. Und dieses Programm hat uns im Laufe der Menschheitsgeschichte einen gigantischen technischen Fortschritt und, damit einhergehend, ungeheure Möglichkeiten und Zeitgewinne beschert.
Aber dieses Programm sorgt zugleich offenbar dafür, dass wir uns diese Gewinne immer wieder abjagen lassen. Ein Programm also, das dafür verantwortlich ist, dass uns am Ende der rastlosen Suche nach kostspieligen äußeren Genussquellen nicht einmal mehr Zeit bleibt für die Nutzung jener Quelle, die Gott oder die Evolution in unser Inneres gratis eingebaut hat.
[1]: Auf Nachfrage legte die Pressestelle Wert darauf, dass es in der Originalmitteilung „auch“ für Intimität und Sexualität und der „Ehepartner“ heißt.