Aus: „Bildung contra Turboschule“ – Essay

Leseprobe
aus: „Bildung contra Turboschule“

Turboschule

Lehrer sind manchmal fies. Ein Studienrat eines bayerischen Gymnasiums legte einer achten Klasse einen Mathetest, der bereits geschrieben, korrigiert und besprochen war, in der darauf folgenden Stunde noch einmal vor. Der Test fiel schlechter aus als beim ersten Mal. Warum? Die Schüler hatten das Gelernte längst weggeworfen, „entsorgt“. Das dürfte kein Einzelfall sein. Eine im Sommer 2006 veröffentlichte PISA-Sonderauswertung für Mathematik und Naturwissenschaften in der 9. Jahrgangsstufe verschiedener Schularten ergab: Je nach Fach haben 40 bis 60 Prozent der Schüler innerhalb eines Jahres überhaupt nichts dazugelernt oder sogar Wissen und Können verloren.
Jene Bildung, die wir in unseren Schulen verabreichen, bleibt bei vielen Kindern offenbar nur wenig haften. Vor allem ab dem vierten Schuljahr, wenn der Wettlauf zum Gymnasium beginnt. Dies liegt ganz wesentlich an einem falschen Umgang mit Zeit. Die Schule versucht in aller Regel Bildung mit hohem Druck in die Köpfe der jungen Menschen zu pressen. Sie ist eine Turboschule. Mit der Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre wurde der Pressdruck ein weiteres Mal erhöht. Die Grundlagen jedoch sind längst gelegt.

Fastfood- und Wegwerfbildung

Um Zeit zu sparen, lässt sich die Turboschule einiges einfallen: Sie sortiert die Kinder in möglichst homogene Gruppen, sie stellt die Körper ruhig, sie definiert durch einen detaillierten Plan, was zu tun und zu lassen ist, sie organisiert den gesamten Betrieb als Wettrennen um künstlich knapp gehaltene gute Noten. Die unter Zeitdruck verabreichte Form von Bildung ist im Kern Fastfoodbildung. Es sind meist kleine, mundgerechte Häppchen, auf Arbeitsblättern und Folien didaktisch-methodisch gereinigt von allem, was irritieren könnte, vorgekocht und vorverdaut, oft ansprechend zurechtgemacht und zusätzlich angereichert mit didaktischen Lockstoffen – alles im 45-Minuten-Takt eingeflößt und möglichst schnell hinuntergeschluckt. Wenig Kauarbeit, unverzügliche Sättigung, kaum Ballaststoffe und bescheidener Nährwert. Wo eine größere Anzahl von Menschen mit Fastfood ernährt wird, entstehen bekanntlich schnell Müllberge. Auch Fastfoodbildung bringt viel überflüssiges hervor. Schüler stopfen sich vor Prüfungen möglichst viel Stoff hinein und spucken ihn anschließend schnell wieder aus. Das Fach Geschichte, in dem diese Praxis besonders verbreitet ist, wird im Fachjargon bisweilen auch „Klofach“ genannt. Gelernt wird vor allem für Noten, Punkte, Zeugnisse, für Tauschwerte also. „Dieses Blatt fragt sie bestimmt nicht ab, das haben wir in der Gruppe gemacht, das wäre voll ungerecht“, so eine 14-Jährige auf dem Weg zur Schule. Nicht ob ein Stoff interessant oder wichtig ist, sondern Risikokalküle, die auf Notenoptimierung zielen, steuern in der Regel das Lernverhalten. Die umgehende Löschung des Gelernten nach Verbuchung des Tauschwertes wird als befreiend empfunden. Der Speicher ist wieder bereit für die nächste Runde. Fortgeschrittene Gymnasiasten besuchen den Unterricht sowieso nur mehr dann, wenn es vom betriebswirtschaftlichen Kalkül her opportun erscheint. Dass so geartetes Lernverhalten nur zu einem höchst löchrigen Bildungsergebnis führen kann, liegt auf der Hand.
Der Zeitdruck der Turboschule zeigt sich an vielen Stellen. Wie oft fehlt die Zeit zur sinnlich-spielerischen Annäherung an Lerngegenstände, zum selbstständigen Erschließen von Themen, zur selbst organisierten Zusammenarbeit mit anderen, zum Wiederholen, Üben und Anwenden des Gelernten, zum kritischen Nachfragen und zur Entdeckung eigener Erkenntnisinteressen? Im Grunde sind Schüler ständig gezwungen, Antworten auf Fragen zu finden, die sie noch gar nicht gestellt haben. Da kann es nicht verwundern, wenn dauerhafte Bildung so oft auf der Strecke bleibt.

Fehler als Hindernisse

Wie der gegenwärtige Umgang mit Zeit dem Bildungsauftrag der Schule schadet, lässt sich gut am Umgang mit Fehlern studieren. Was geschieht genau, wenn im Rahmen des in weiterführenden Schulen vorherrschenden Unterrichts, dem so genannten „lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch“, der Lehrer eine Frage stellt? In aller Regel melden sich ein paar Schüler. Wenn die Antwort des zuerst Aufgerufenen nicht richtig war, kommt der Nächste, dann der Übernächste dran. Dazwischen gibt der Lehrer bestenfalls ein paar Hilfestellungen. Dann beantwortet er seine Frage meist selbst. Es dauert ihm einfach zu lang.
Wie aber werden die falschen Antworten genutzt? Wird überhaupt geprüft, warum eine Antwort in die Irre ging? Wo genau der Fehlschluss angesiedelt war oder welche Information falsch verstanden oder fehlerhaft gespeichert wurde? Dafür ist in der Regel keine Zeit. Die Fehler gehen in einem solchen Unterrichtsgespräch unter wie Schiffe im Bermudadreieck, bemerkt der Schweizer Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers treffend. Sie lassen sich, sind sie einmal verschwunden, nicht mehr rekonstruieren, aus ihnen kann nicht mehr gelernt werden.
Der Unterricht schreitet meist in kleinen, durch Fragen und Antworten strukturierten Schritten voran. Dies ist, so die Kieler Unterrichtsforscherin Tina Seidel, die den Physikunterricht an deutschen und japanischen Schulen miteinander verglichen hat, ein Charakteristikum des deutschen Unterrichts. In Japan probieren die Schüler der Untersuchung zufolge viel mehr herum, machen dabei zunächst jede Menge Fehler, sind dann aber eher in der Lage, in Prüfungssituationen selbstständig einen Weg zu finden. Und wer einmal selbst den Weg durch ein Labyrinth gefunden hat, kann Irrwege als solche markieren und muss sie beim nächsten Mal nicht wieder gehen.

Testeritis

Ein Unterricht, der als Wettlauf um die Vermeidung von Fehlern organisiert ist, zwingt den Schüler auf den Dauerprüfstand. Von den kinderärztlichen Reifetests führt der Weg über den Grundschulreifetest zu den diversen Möglichkeiten, die Gymnasialreife zu ermitteln. Dort ist der Unterricht dann mit Prüfungssituationen förmlich durchsät. Neueste Errungenschaft der Testfraktion unter den Bildungspolitikern sind Jahrgangsstufentests zu Schuljahresbeginn, angeordnet als Reaktion auf den PISA-Schock.
Heimlich, still und leise wird ein immer größerer Teil des Unterrichts zur Testvorbereitung. „Teaching for the test“ nennt man das in England. Je besser dort eine Schule in den regelmäßigen nationalen Vergleichstets abschneidet, desto weiter oben steht sie in den „School and College Achievement and Attainment Tables“, die jährlich wie Bundesliga-Tabellen vom Bildungsministerium veröffentlicht werden. Sie gelten als wichtiger Indikator für die Qualität von Schulen. Solche Schulrankings stehen auch uns bevor, zumal dann, wenn Schulen demnächst als private Unternehmen auf einem freien Markt ums Überleben kämpfen müssen.
All diese Tests dienen angeblich dazu, Schüler hinterher zielgerichteter fördern zu können. Vielleicht geschieht das zunächst auch. Aber die Tests verschieben als Nebenwirkung die Schwerpunkte des Unterrichts. Und was dann unter dem Strich herauskommt, ist ziemlich ungewiss. Ein Deutschlehrer wird sich z.B. zweimal Überlegen, ob er ein zusätzliches Jugendbuch mit seiner Klasse liest, ein kleines szenisches Spiel einschiebt, einen Film dreht – oder aber doch lieber noch ein paar Grammatikübungen als Testvorbereitung macht. Die Testergebnisse der eigenen Klasse könnten ja nicht nur Einfluss auf die Bildungs- und Berufschancen der Schüler, sondern auch auf die Karriere oder gar Weiterbeschäftigung des Lehrers haben. Der Schüler aber, zumal der schwächere, könnte vielleicht von einem zusätzlichen Jugendbuch mehr gehabt haben. Es hätte seine Lust zum Lesen entflammt und so langfristig auch seine schriftliche Sprachkompetenz verbessert. Es gibt sogar viele Hinweise darauf, dass Theaterspielen oder Musizieren die Schulleistungen in Mathe und Englisch mehr fördert als zusätzliche Mathe- und Englischstunden.

Erziehung zur „Lebensuntüchtigkeit“?

Fastfood ist in der Regel nicht besonders gesund, weder für den Körper noch für Seele und Geist. Allein schon die Narben, die der Schulbetrieb bei Schülern und Lehrern hinterlässt, müssen nachdenklich stimmen: Jeder fünfte Schüler leidet körperlich unter Schulstress, etliche werden darüber hinaus depressiv oder aggressiv, einige wenige implodieren oder explodieren. Und zwei von drei Lehrern sind durch ihre Arbeit gesundheitlich stark gefährdet, immer mehr landen in Burnout-Kliniken.
Welche Konsequenzen aber hat der auf Noten, Punkte und Rankingtabellen ausgerichtete Turbobetrieb für die Inhalte der Bildung? Die Turboschule mag zwar gute Arbeitstiere, Konsumsüchtlinge und Untertanen produzieren. Wie steht es aber um den viel zitierten mündigen Bürger, den kritischen, widerständigen, eigensinnigen, den verantwortungsbewussten und verantwortungsfreudigen Menschen? Bildung ist im Kern Erschließung der äußeren und inneren Welt des Menschen. Diese Welt ist heute tendenziell global, in ihr hängt fast alles mit allem zusammen. Auf einem enger werdenden Globus kann der Mensch als Gattungswesen nur überleben, wenn er zum vernetzten Denken befähigt und zur Anerkennung des Anderen, die auch die Übernahme von Verantwortung für ihn einschließt, bereit ist. Wenn nun aber die Turboschule die Welt in Fächer und Wissenshäppchen als Tauschmittel für den Kampf um gesellschaftliche Berechtigungsscheine zerreißt, wenn sie den Menschen zum Einzelkämpfer erzieht und wenn dies alles unter einem zunehmenden Zeitdruck stattfindet, könnte sich das auf längere Sicht als verhängnisvoll erweisen. Die Schule erzieht zur „Lebensuntüchtigkeit“, hatte bereits vor 30 Jahren der Münchner Biologe und Systemforscher Frederic Vester diagnostiziert.
Und noch etwas: Wenn die Turboschule Fehler als Hindernisse behandelt, bleibt die Produktivität des Fehlers ungenutzt. Dabei wäre es sinnvoll, im Unterricht möglichst viele Fehler zu provozieren, die Schüler gewissermaßen zum lauten Denken anzuregen. Denn erst durch Irrtum wird man wirklich klug. Versuch, Irrtum und Vielfalt – das sind die Bausteine der Evolution. Ihnen verdanken wir das Leben und die Kultur auf unserem Planeten. Bekanntlich sind Monokulturen von schnell wachsenden Bäumen nicht nur ästhetisch wenig anziehend, sondern ökologisch auch höchst störanfällig. Welchen Preis wird die Menschheit morgen für die Monokultur bezahlen, die in unseren Schulen durch lokale, nationale und globale Vergleichstests heute erzwungen wird?

Turboschule – nur ein Symptom des Turbolebens

Der Umgang mit Zeit bei der Ernährung des Geistes wie des Körpers ist symptomatisch für unser gesamtes Turboleben. Das Fastfood- und Wegwerfprinzip zielt auf die beschleunigte Steigerung von Produktion und Konsum. Was wäre die Alternative? Beim Konsumieren, Arbeiten und eben auch beim Lernen achtsamer mit Zeit umzugehen, einerseits mit der Zeit der natürlichen Lebensgrundlagen, andererseits mit der Zeit des Körpers, der Seele und des Geistes. Sich also nicht an den Programmzeiten der Ökonomie, sondern an den Eigenzeiten des Lebens zu orientieren. Jedes Kind braucht seine Zeit – damit es seine Neugierde, die ihm angeboren ist, pflegen, die Netze, die sein Leben tragen, begreifen, den Platz, der ihm in der Gesellschaft zusteht, finden und die Verantwortung, die es für andere und sich selbst trägt, übernehmen kann. Reformpädagogisch ausgerichtete Schulen beweisen seit Langem, dass solche Erkenntnisse nicht bloße Theorie bleiben müssen.
Vielleicht sollten wir uns an den Ursprung des Wortes „Schule“ erinnern: an „scola“, die Zeit, in der im mittelalterlichen Klosterleben die Arbeit ruhte, die Mußestunden also. Je mehr heute die allgemeine Beschleunigung zunimmt, desto wichtiger wird ein Ort, an dem das Innehalten gelernt werden kann. Eine entschleunigte Schule als wichtiger Beitrag zur Selbstkultivierung des Menschen (Kant). Genau diese Fähigkeit zum Innehalten und Prüfen ist es nämlich, die den Menschen aus der Welt der Tiere heraushebt und Voraussetzung für seinen prinzipiell freien Willen ist.