Gemeinwohl ohne Gemeinsinn: Der Mythos der liberalen Moderne

MAKROSKOP – Magazin für Wirtschaftspolitik vom 15.03.2023

 

Der Mythos der liberalen Moderne

Von Fritz Reheis |

Wann will sich die weit fortgeschrittene Moderne endlich von dem Mythos befreien,

das Gemeinwohl ergebe sich ohne Gemeinsinn ganz von selbst?

 

Seit 50 Jahren warnen Wissenschaftler vor der Klimakrise. Seit 30 Jahren veranstaltet die

Politik Klimakonferenzen. Seit 20 Jahren kennt der Deutsche Bundestag den Ernst der Lage

(Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“). Seit 15 Jahren liegt ihm ein

detaillierter Haushaltsplan für die Klimawende vor (eingereicht von der damals jüngsten

Abgeordneten Anna Lührmann). Und jetzt auf einmal muss alles ganz schnell gehen.

Jetzt auf einmal wird klar, dass Klimaschutz auch Kosten mit sich bringt, die viele überfordern.

Und seit dem Krieg in der Ukraine müsste jeder begriffen haben, was eigentlich spätestens

seit dem Golfkrieg von 1991 nicht mehr verdrängt werden kann: Die existenzielle Abhängigkeit 

vom Import fossiler Energie ist auch für den Weltfrieden brandgefährlich.

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Warum nur tut sich die Politik mit dem Gemeinwohl so schwer, und viele Bürger
ebenso? Und das nicht nur beim Klima! Leidet der Mensch an einem biologisch
begründeten Gendefekt oder einer unheilbaren Demenz? Oder aber an einer
Bewusstseinstrübung mit einhergehender Verhaltensstörung, die im Prinzip
heilbar ist?
Für weit über 95 Prozent der Generationen, die unseren Planeten bisher
bewohnt haben, schien die Sache mit dem Gemeinwohl ziemlich klar: Bei den
Jägern und Sammlern waren es die Alten, denen am ehesten zugetraut wurde zu
wissen, was für alle gut war: wo Tiere und Früchte zu finden und wie sie zu
verarbeiten waren, was bei Unfällen, Krankheiten, Streitigkeiten zu tun war, und
wie man am besten die Regengötter beschwor. So lange sich die Verhältnisse
von Generation zu Generation nur wenig änderten, war es einfach ein Gebot der
Klugheit, den Erfahrensten das Gemeinwohl anzuvertrauen. An diese
Selbstverständlichkeit knüpften im Grunde auch die frühen Ackerbauern und
Viehzüchter an, die bald dazu übergingen, mit dem Eigentum auch den
Herrschaftsanspruch als blutsmäßiges Erbe zu beanspruchen. So wurde aus der
Herrschaft der Alten die Herrschaft der Familiendynastien.
Die Moderne schließlich, die eine historisch beispiellose Innovationsdynamik in
die Welt brachte, entzog dem Herrschaftsanspruch des Alters von Personen und
Familien vollends die Grundlage. „Alles Stehende und Ständische verdampft“, so
brachten Marx und Engels den Turbomodus des modernen Bürgertums auf den
Punkt. In dieser Hochgeschwindigkeits-Welt musste die Idee vom Gemeinwohl
voll und ganz in der Gegenwart verankert und für die Zukunft geöffnet werden.
Rekonstruieren wir also, wie sich diese Idee in der aufklärerischen Moderne
herausgebildet hat und worin die oben diagnostizierte Gemeinwohlschwäche
begründet ist.

Vernunft und Demokratie: die frühliberale Suche nach dem
Gemeinwohl

Die Moderne mit ihrer revolutionären Idee von der jedem Menschen
angeborenen gleichen Freiheit schuf die Grundlage jenes
Gemeinwohlverständnisses, das im Liberalismus bis heute tief verankert ist. Das
Gemeinwohl, so die zunächst nur auf die Ordnung des Wirtschaftens

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beschränkte Vorstellung, könne sich aus dem Einzelwohl ganz von selbst, also
auf rein indirektem Weg ergeben. Zwei Mittel schienen dafür wie geschaffen,
beide ein Gebot der puren Vernunft.
Das erste Mittel sei der Markt. Er befreie die innere Natur des Menschen und
lenke seine Kräfte in jene Richtung, die für alle gut sei. Es war Adam Smiths
berühmte Metapher von der „unsichtbaren Hand“, die diese wundersame
Verwandlung der vielen Einzelwohle in das eine Gemeinwohl bewirken sollte.
Diese Hand könne allein durch das Aussenden von Preissignalen (als Folge des
Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage) die Informationen bereitstellen,
die die konkurrierenden Marktteilnehmer für bestmögliche Entscheidungen
benötigten. Das gelte national (Gewerbefreiheit) wie international (Freihandel)
gleichermaßen. Wenn alle, geleitet durch die Sprache der Preise, für sich selbst
bestmöglich sorgen würden, dann sei für alle bestmöglich gesorgt. Die
unsichtbare Hand sei klüger als jede sichtbare Hand eines leibhaftigen
Menschen (etwa eines merkantilistischen Wirtschaftsplaners).
Das zweite Mittel, um das Gemeinwohl auf indirektem Weg zu befördern, sei die
Maschine. Auch sie galt als Inkarnation der Vernunft. Sie brauche nur die
Gesetze der äußeren Natur zu enthüllen, um die Kräfte des Menschen zu
vervielfachen. Wo die Gesetze der inneren und der äußeren Natur des Menschen
zusammenwirkten, so glaubte man in der frühliberalen Moderne, nütze das im
Prinzip allen Menschen in gleicher Weise. Die technischen Wunderwerke der
Industrialisierung schienen lange Zeit eindrucksvoll zu belegten, wie gut das
Leben für alle tatsächlich werden könne. Märkte und Maschinen bräuchten nur
ausreichend Zeit, um ihre schöpferischen Kräfte zu entfalten.
Die Politik könne in einer solchen durch und durch vernünftigen Ordnung des
Wirtschaftens auf das stille und heilsamen Wirken der inneren und äußeren
Kräfte der Natur, die die Vernunft enthüllt habe, vertrauen und dürfe dem Streben
der Wirtschaft nach Wohlstand und der Wissenschaft nach Erkenntnis vor allem
nicht in die Quere kommen. Aufgabe des Staates sei es, sich wie ein
Nachwächter auf das Kontrollieren (ob Stadttore und Haustüren geschlossen
sind) und Alarmieren (wenn es brennt) zu beschränken. (Wobei übrigens nicht
uninteressant ist, dass Adam Smith noch an die Stimme des Gewissens glaubte,
das die selbstsüchtigen Marktakteure ermahne, auch das Wohl ihrer
Mitmenschen zu bedenken, und den Staat, für Bildung und Gesundheit seiner
Bürger zu sorgen.) Insgesamt schien in dieser Vision das Paradies auf Erden
zum Greifen nah. Die wundersame Verwandlung von Einzelwohl in Gemeinwohl

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ohne die Vermittlung durch einen Gemeinsinn wurde zum ideologischen Kern
des Liberalismus.
Während der Nutzen der technischen Vernunft für das Gemeinwohl zunächst
relativ unproblematisch schien, war der des Marktes von Anfang an umstritten.
Ebenfalls als Kind der Naturrechtsphilosophie wurde nämlich zu Beginn der
Moderne auch die Idee der Demokratie geboren. Damit ergab sich ein
eigenartiges Spannungsverhältnis zwischen Markt und Demokratie.
Während die Utopie der Liberalen in Bezug auf die Wirtschaft auf den Willen des
isolierten und selbstsüchtigen Individuums aufbaute, setzte die Utopie der
Demokraten in Bezug auf die Politik auf die Vernunft der gesellschaftlich
verbundenen und zur Solidarität durchaus fähigen Kollektive. Die kollektive
Vernunft, davon waren Demokraten überzeugt, basiere auf der grundlegenden
Fähigkeit des Menschen, zu relativ verlässlichem Wissen zu gelangen und sich
vernünftig darüber zu verständigen, was gut nicht nur für den Einzelnen, sondern
eben auch für alle sei. Die griechische Polis als demokratisches Reallabor
inmitten von autokratischen Hochkulturen schien das bewiesen zu haben. Das
Zusammenfallen von „Wille“ (voluntas) und „Vernunft“ (ratio), so Jürgen
Habermas, sei die normative Basis der Demokratie. Soweit jedenfalls die Vision
(an die sich die liberalen Vordenker in ihrem Privatleben allerdings wenig
gebunden fühlten, wenn es etwa um ihre Haussklaven ging.)
Die Brisanz des Spannungsverhältnisses zwischen dem Gemeinwohlkonzept des
Marktes und dem der Demokratie zeigt sich vor allem in der Frage, wie der
Mensch Einfluss auf die inhaltliche Definition des Gemeinwohls nehmen könne.
Die Zuteilung der Einflusschancen unterscheidet sich gemäß der inneren Logik
von Markt und Demokratie nämlich diametral. Auf dem Markt gilt „Wer zahlt
schafft an“, in der Demokratie „one man, one vote“. Mehr noch: Märkte
verstärken einmal entstandene Ungleichheiten meist mit jeder Runde weiter und
vererben sie sogar. Demokratien jedoch mischen nach jeder Wahl oder
Abstimmung die Karten neu (und eine Vererbung von Wählerstimmen und
Abstimmungsvoten wäre ihr völlig fremd). Sprachliche Formeln wie „liberale
Demokratie“ oder „demokratischer Liberalismus“ sind hilflose Versuche, diese
Spannung zwischen den zwei Wegen zum Gemeinwohl – die Konkurrenz
isolierter Menschen auf Märkten und die Kooperation verbundener Menschen im
politischen Gemeinwesen – zum Verschwinden zu bringen.

Die spätliberale Wiedergeburt der „unsichtbaren Hand“

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Dass sich die Spannung zwischen Markt und Demokratie systematisch
verschärfen musste und auch die Maschinen dabei mitwirkten, zeigte sich, so die
Fortsetzung der Rekonstruktion der Gemeinwohlschwäche, spätestens seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der gigantischen
Beschleunigung der materiellen Produktion wurde nämlich dreierlei erkennbar:
Die Marktgleichgewichte wollten sich erstens immer öfter nicht einstellen, Märkte
erwiesen sich überhaupt als blind gegenüber den Voraussetzungen des Lebens
und Zusammenlebens der Menschen. Es gab einfach zu viele „marktexterne
Effekte“ (wie die Markttheorie diesen Umstand nennt).
Die Maschinen schufen zweitens Probleme, die es ohne sie nicht gegeben hätte,
indem sie der menschlichen Arbeit Konkurrenz machten und auch der Natur
einiges zumuteten.
Und beides zusammen ließ drittens entgegen der liberalen Lehre vom
weitgehend zurückhaltenden Staat den Ruf nach einem aktiv eingreifenden Staat
immer lauter werden: nach Schutzzöllen (Getreide, Stahl) und sozialer
Absicherung (bei Krankheit, Unfall, Invalidität, im Alter, später bei Arbeitslosigkeit
und im Pflegefall) sowie nach Fabrik- und Kommunalordnungen (Kinderarbeit,
Verschmutzung von Wasser und Luft) bis hin zur globalen Klimapolitik der
Gegenwart.
Als es gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich um die Aneignung der
letzten weißen Flecken der Welt ging, wurde vollends klar: Der
Nachtwächterstaat musste zum Interventionsstaat mutieren und gegebenenfalls
imperiale Ambitionen entwickeln. So erhielt das Gemeinwohl einen starken und
überaus sichtbaren Anwalt. Der wundersame indirekte Weg hatte nicht zu dem
von den Liberalen herbeigesehnten paradiesischen Zustand geführt.
Aber die Suche nach den Ursachen der Gemeinwohlschwäche ist damit noch
nicht zu Ende. Trotz (oder wegen?) zweier Jahrhundertkatastrophen (die es ohne
starke „Interventionsstaaten“ nicht gegeben hätte) keimte im 20. Jahrhundert bei
den Liberalen eine neue Gemeinwohlhoffnung auf. Jetzt waren es die
organisierten Kräfte, die Verbände und ihre Lobbyisten, die den Staat für ihre
Einzelinteressen einspannten. Sie sollten am Ende auf wundersame Weise das
Gemeinwohl hervorbringen können, allein gesteuert durch die Vielfalt und die
Konkurrenz der Kräfte: das Gemeinwohl als „Resultante“ in einem
„Kräfteparallelogramm“ (Ernst Fraenkel).

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Damit wurde die einst von Jean Jaques Rousseau vertretene Vorstellung, es
könne in der Demokratie einen „allgemeinen Willen“ (volonté générale) geben,
den die kollektive Vernunft nur herauszufinden bräuchte, um ihm Geltung zu
verschaffen, als Illusion zurückgewiesen. So erlebte die Klugheit der
unsichtbaren Hand ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine
Wiedergeburt, jetzt in dem Gewand des Parallelogramms der kollektiven Kräfte,
des demokratischen „Pluralismus“. Der indirekte Weg zum Gemeinwohl wurde
also von den Liberalen erneut als allein zielführend und allein normativ
akzeptabel behauptet.
Auch das erwies sich freilich weitgehend als Illusion, was eigentlich nicht
überraschen konnte. Denn wer beim Wettrennen weiter vorne oder früher startet,
der kommt meist auch eher ans Ziel (und darf nicht selten zudem in der nächsten
Runde noch weiter vorne starten). Warum sollte das für Wandelhallen vor
Parlamenten und Gänge vor Ministerbüros weniger gelten als für Märkte? Warum
sollte das Konkurrenzprinzip aus der Vielfalt der Möglichkeiten genau jene
auswählen, die für alle gut wären? Gibt es da nicht auch das bekannte MatthäusPrinzip?
Und was bedeutet es für den demokratischen Pluralismus, wenn die im
Konkurrenzkampf Zu-kurz-Gekommenen dessen Resultate einfach nicht mehr
hinzunehmen bereit sein würden? Es war unter anderen der konservative
Staatsrechtler Ernst Forsthoff, der Anfang der 1970er Jahre auf den
merkwürdigen Widerspruch des demokratischen Pluralismus aufmerksam
machte, der dem gesunden Menschenverstand längst bekannt war: Gerade das
Gemeinwohl kommt im Interessenskampf systematisch zu kurz, weil die besser
organisierten und konfliktfähigeren Einzelinteressen am längeren Hebel sitzen.
(Forsthoff konkretisierte übrigens schon sehr weitsichtig, welche Interessen im
Konkurrenzkampf um die Instrumentalisierung des Staates zum Opfer fallen: die
Interessen am Schutz von Natur und Mensch, der Verschmutzung der
Atmosphäre und der Meere, der gentechnischen Veränderung des Menschen
selbst.) Zur Bändigung der Einzelinteressen brauche es, so Forsthoffs Folgerung,
einen über ihnen stehenden starken Staat. Und diesen konnte er sich natürlich
nur als Nationalstaat vorstellen.

Blind, aber ultraschnell: die Finanzmärkte und das globale Dorf
am Rande des Abgrunds

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Genau den, so der letzte Akt der Rekonstruktion der Gemeinwohlschwäche, hat
die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Hyperbeschleunigung im
ausgehenden 20. und verschärft im 21. Jahrhundert weitestgehend
hinweggespült. Nicht nur, dass einige wenige Konzerne und Staaten das
Weltgeschehen dominieren und so von Chancengleichheit in der Konkurrenz
keine Rede sein kann.
Diese ökonomischen und politischen Akteure erweisen sich zudem als
Getriebene einer Weltwirtschaft, in der die schnellsten Märkte, die Finanzmärkte,
den Takt schlagen. Sie entscheiden, wo Produktivkräfte tätig werden und wo
nicht. Das Einzelwohl der Investoren im Hier und Jetzt bestimmt im globalen Dorf
das Wohl einer rasch zunehmenden Zahl von Menschen in der räumlichen und
zeitlichen Ferne, ohne dass sich letztere zur Wehr setzen könnten. Sie haben
einfach zu wenig finanzielle Mittel, weil sie zu weit weg von den Quellen des
Reichtums leben oder noch gar nicht geboren sind. Und allein diese Mittel sind
es, die auf Kapitalmärkten zählen (wie auf Gütermärkten Kaufkraft).
Die prinzipielle soziale und ökologische Blindheit von Märkten schließt nicht aus,
dass Entscheidungen von Investoren auch das Gemeinwohl fördern können –
aber wenn, dann nur als Kollateralnutzen. Im Grunde ist es also immer noch die
vermutete Klugheit der Märkte, jetzt eben der globalen Finanzmärkte, der das
Gemeinwohl im globalen Dorf anvertraut ist.
Wo marktexternen Effekte die Welt in rasender Geschwindigkeit überfluten,
verdichtet sich zwangsläufig der Eindruck, dass die international
herausgeforderten Interventionsstaaten im 21. Jahrhundert genauso überfordert
sind wie die nationalen Nachtwächterstaaten im 19. Jahrhundert. Denn die Macht
von Staaten ist auch im globalen Dorf im Prinzip immer doppelt begrenzt:
räumlich, weil ihre Reichweite an den Landesgrenzen endet, und zeitlich, weil
ihre Macht, wenn sie demokratisch legitimiert sein wollen, immer erst die Bürger
beteiligen muss, ehe sie wirksam werden kann.
Das globale Kapital kennt solche Grenzen nicht. Es agiert grenzenlos im Raum
und blitzschnell in der Zeit. Hier drängt sich die Metapher vom Schwert des
Damokles auf: die allgegenwärtige Angst der Akteure, umso härter von der
Konkurrenz abgestraft zu werden, je konsequenter sie in ihren Kalkülen auf die
räumliche und zeitliche Ferne Rücksicht nehmen. Diese Angst ist auch der
Nährboden für jenen nationalen Egozentrismus, der den Globus als rechter
Populismus immer stärker heimsucht: Neben uns und nach uns die Sintflut!

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Daran vermag auch die UNO, die potenzielle Hüterin des globalen Gemeinwohls,
bisher wenig zu ändern. Das Vertrauen darauf, dass ein indirekter Weg das Wohl
der Einzelnen in das allgemeine Wohl verwandeln könne, ist vielleicht der
wirkmächtigste Mythos der gesamten Moderne. Es fragt sich, wie lange die
räumliche und zeitliche Verschiebung der wahren Kosten der „imperialen
Lebensweise“ (Ulrich Brand/Markus Wissen) noch funktioniert. Wann ist der
Punkt erreicht, an dem wir uns den „Preis der Externalisierungsgesellschaft“
(Stephan Lessenich) nicht mehr leisten wollen oder können? Wann will sich die
weit fortgeschrittene Moderne endlich von dem Mythos, das Gemeinwohl ergebe
sich ohne Gemeinsinn ganz von selbst, befreien? Die finale Ausdehnung der
Modernisierung rund um den Globus in Verbindung mit dem historisch
einzigartigen Veränderungstempo droht dem Menschen als Spezies immer mehr
zum Verhängnis zu werden.

Ausblick

Das Gute ist: Bewusstseinstrübungen und Verhaltensstörungen können
prinzipiell therapiert werden. Das Verhältnis von Gemeinsinn und Gemeinwohl
darf in einer globalisierten Moderne allerdings nicht hinter die Errungenschaften
der aufklärerischen Moderne zurückfallen: Gemeinsinn und Gemeinwohl
müssen, von der Vernunft geleitet werden und auf einem qualitativ
anspruchsvollen Willen und einem ebenso qualitativ anspruchsvollen Wissen
aufbauen.
Die Kunst besteht darin, das Gemeinwohl so zu fassen, dass es das Einzelwohl
respektiert und dennoch das Denken und Handeln im Interesse aller leitet. Das
betrifft das individuelle Verhalten genauso wie die strukturellen Verhältnisse.
Beide müssen sich synergetisch so ergänzen, dass ein zugleich personeller und
institutioneller Prozess der Solidarisierung ohne Ausschluss möglich wird. Nur
ein solcher kultureller Lernprozess kann den Menschen dazu befähigen, die
Transformation des Primats der Konkurrenz zum Primat der Kooperation zu
vollziehen. Es geht darum, nicht nur frei von Konkurrenzängsten, sondern auch
frei für die Kooperationsverantwortung zu werden, nicht nur kooperieren zu
sollen, sondern dies auch zu können.
Ein solcher direkter Weg, der die fundamentale Bedeutung des Gemeinsinns für
das Gemeinwohl anerkennt, erfordert dreierlei: Erstens die Abwesenheit von
existenzieller materieller Not, die den Blick für die räumliche und zeitliche Ferne
systematisch verstellt. Zweitens die Ausweitung des kulturellen Horizonts auf die

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räumliche und zeitliche Ferne, die Kopf, Herz und Hand umfasst und gelernt und
geübt werden muss. Und drittens – aufgrund der beispiellosen Globalität und
Veränderungsdynamik – ein Wissen, das über das alltägliche Erfahrungswissen
hinausgeht, ein systematisches, ein wissenschaftliches Wissen über die Welt als
Ganzes.
Vor allem für die Wirtschaftswissenschaft ist das mit einer schmerzlichen Lektion
verbunden. Sie muss sich im Angesicht von Klima- und Energiekrise,
Artenschwund und Kriegen endlich aus ihrem mythischen Untergrund lösen und
realistisch werden. Sie könnte etwa an die Arbeiten der US-amerikanischen
Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom anschließen, die an einer Vielzahl von
konkreten Beispielen aus aller Welt gezeigt hat, dass natürliche Ressourcen
unter bestimmten Bedingungen auch ohne Privateigentum, Markt und
Konkurrenzzwänge dauerhaft verwaltet und genutzt werden können (wofür sie
2009 sogar den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat).
Die Wirtschaftswissenschaft müsste endlich begreifen, dass Ökonomie im Kern
ein Teilbereich der Ökologie ist, nämlich die Fortführung der „Wirtschaft der
Natur“ (Vandana Shiva) durch den Menschen. Das impliziert die triviale
Erkenntnis, dass sich die Natur nach menschlichen Eingriffen immer erst wieder
erholen muss, um weiterhin als sicherer und fruchtbarer Lebensraum zur
Verfügung stehen zu können. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht.[1]
Respekt vor den Zyklen der natürlichen Lebensgrundlagen ist ein erster
unumgehbarer Schritt in Richtung auf ein Gemeinwohl, das wirklich alle
Menschen einzuschließen vermag.