Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 3. Schullaufbahn

Lernen im Laufschritt – und was dabei auf der Strecke bleibt

3. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Ich bin doch noch nicht fertig!“, protestiert der kleine Hans, als ihm der Lehrer das Blatt abnimmt. Sein Protest verhallt. Leistung ist Arbeit pro Zeit, und zum Zwecke der Leistungsmessung muss die Zeit eben künstlich verknappt werden.

Nicht nur bei Leistungstests werden Kinder und Jugendliche in der Schule systematisch unter Zeitdruck gesetzt. Der Lehrer und Erziehungswissenschaftler Bruno Posod, der die Aussagen von insgesamt 1400 Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern ausgewertet hat, kommt zu einem vernichtenden Urteil: 45 Prozent der 14- bis 19-jährigen Schülerinnen und Schüler verspüren „oft“ oder sogar „immer“ Zeitnot im Zusammenhang mit schulischer Arbeit. 70 Prozent gaben an, auf ihre individuellen Zeitbedürfnisse werde in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder „nie“ Rücksicht genommen. Und 95 Prozent berichteten, dass sie in der Schule nur „manchmal“, „selten“ oder sogar „nie“ lernen, auf ihre Gefühle zu achten bzw. diese auszudrücken.[1] Zu viel Stoff und zu wenig Zeit – darin waren sich fast alle befragten Schüler, die meisten Eltern und auch viele Lehrer einig. Erziehung zur Schnelligkeit scheint eine der zentralen Wirkungen, vielleicht sogar zentrales Ziel von Schule zu sein. Posod sieht in der einseitigen Schnelligkeitsorientierung eine Gefahr, weil dadurch die Fähigkeit zum genauen Wahrnehmen, zum Nachdenken über das Wahrgenommene, zur intensiven Durchdringung, zum Überprüfen und Bewerten des Gelernten zu kurz kommt. Dies mag Schülern, Eltern und Lehrern zwar nicht bewusst werden, ist aber dennoch charakteristisch dafür, was die Schullaufbahn den Kindern zumutet und vorenthält.

Das Lernen im Laufschritt hat weitere Konsequenzen. Der Zeitdruck lässt oft nicht einmal zu, das Gelernte zu wiederholen, zu üben oder gar anzuwenden. So bleibt den Kindern das eigentlich wohl verdiente Erfolgserlebnis, welches Lernprozesse abschließen sollte und zu neuem Lernen motivieren kann, verwehrt. Zeitdruck verhindert, dass Themen von mehreren Seiten aus beleuchtet werden, wodurch sie in der Regel erst wirklich interessant werden. Aus Zeitdruck bleiben die Kinder sich selbst überlassen, wenn es darum geht, aus der Vielzahl der Fächer ein einheitliches Bild von der Welt zu konstruieren. Zeitdruck ist dafür verantwortlich, dass aufkeimendes Interesse an bestimmten Themen nicht weiter berücksichtigt und damit sofort wieder erstickt wird. Eltern und Lehrer wundern sich dann, wenn Schüler von Schuljahr zu Schuljahr immer passiver und uninteressierter werden. Und hinterher beschweren sich Arbeitgeber und Hochschullehrer darüber, dass Schulabgänger den Anforderungen von Arbeitswelt und Universität nicht genügen.

Nicht nur der Geist, auch der Körper nimmt schaden unter dem Diktat des Tempos in der Schule. Das beginnt dort, wo der natürliche Bewegungsdrang der Kinder gebrochen wird, wo man Kinder und Jugendliche fünf, sechs, bisweilen acht oder zehn Schulstunden auf harte Stühle zwängt, sie zum Stillschweigen verdammt und natürliche Widerstandsreaktionen als Unterrichtsstörungen bestraft. Das alles nur, um den Kindern schneller etwas eintrichtern zu können. Hier kann nicht nur die sich oft im Bewegungsdrang ausdrückende natürliche Neugierde der Kinder bereits irreversibel geschädigt werden. Hier wird auch die Grundlage für die spätere Volkskrankheit Nummer eins, die chronischen Rückenschmerzen, nicht selten mit Bandscheibenvorfällen einhergehend, gelegt.

Wenn Kinder ihre natürlichen körperlichen Bedürfnisse und ihre persönlichen Gefühle quasi an der Schultüre abgeben müssen, so dürfte dies für die Einstellung der Kinder zum Lernen, zur Bildung, zu kulturellen Werten insgesamt nicht besonders förderlich sein. Sie gewöhnen sich daran, auch ohne innere Beteiligung einfach zu funktionieren. So wird die Schule zu jenem Ort, an dem junge Menschen vor allem lernen, sich anzupassen, eine Rolle perfekt zu spielen, sich von sich selbst zu entfremden. Das, was eigentlich wichtig ist im Leben, findet für sie woanders statt. Längst haben wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schule“ vergessen: „Schule“, abgeleitet vom lateinischen „scola“, stand einst für die Mußestunden im Klosterleben, also in jener Institution, die im Mittelalter für Bildung und Erziehung zuständig war. Wenn dann ein Schüler explodiert, wie vor eineinhalb Jahren in Erfurt und vor einem halben Jahr in Coburg geschehen, wird schlaglichtartig bewusst, dass das Lernen im Laufschritt bisweilen einen hohen Preis erfordert.

[1]: Posod Bruno (1997), Schulzeit – Zeitschule. Ein Beitrag zu einem anderen Umgang mit Zeit, Wien, S. 161.↑