Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 4. Hauptsache schnell und flexibel

Wie wir zum Homo Oeconomicus konditioniert werden

4. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Das japanische Erziehungsministerium hat Computerprogramme für Kindergartenkinder entwickeln lassen. Sie eignen sich für Kinder ab dem 30. Lebensmonat, verspricht der Prospekt den Eltern.[1] Frühförderung heißt also das Motto. Wer mit 30 Jahren zur Elite gehören soll, muss mit drei Jahren das Training beginnen. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Japan. In Deutschland hat ein dynamischer Unternehmer ein „Beton-Grabkammer-System“ auf den Markt gebracht. Es fördert den Verwesungsprozess des Leichnams. Spätförderung ist hier die Devise. Mit diesem System, so der Anbieter, lässt sich die derzeitige „Ruhezeit“ von 15 bis 20 Jahren auf 10 Jahre verkürzen.[2] Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur optimalen Flächennutzung . Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Schnell einsteigen, schnell ausrangieren! Dieses Erfolgsrezept hat Zukunft, zumindest in allen Ländern, die sich als „hoch entwickelt“ bezeichnen. Zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, in dem es immer mehr vor allem auf eine Tugend ganz entscheidend ankommt: die Fähigkeit, schnell und flexibel zu sein.

Schnelligkeit bezieht sich dabei auf das Tempo der Bewältigung von Aufgaben aller Art, die von außen gestellt werden: Schnell studieren, schnell Karriere machen, schnell Haus bauen und abzahlen, dazwischen schnell noch Kinder in die Welt setzen usw. Und Flexibilität zielt auf die Bereitschaft, sich diese Aufgaben jeweils auch zu eigen zu machen, sich an sie optimal anzupassen und sich dabei fast beliebig verbiegen zu lassen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch „The Corrosion of Character“, dessen deutsche Ausgabe den bezeichnenden Titel „Der flexible Mensch“ trägt, gezeigt, wie Zeit- und Flexibilitätsdruck auf eine oft unbemerkte Weise die gesamte Lebensführung des Menschen steuert. „Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in 40 Arbeitsjahren wenigstens 11mal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen.“[3] Beruf, Wohnort, soziale Stellung, Familie – alles ist den schnell wechselnden und kaum voraussehbaren Anforderungen des Wirtschaftslebens unterworfen. Die Folge davon: Das Leben wird zu einem ziellosen und immer schwerer durchschaubaren Stückwerk. Dabei wird Vieles plötzlich zum Flexibilisierungshindernis, was bisher als Kennzeichen eines erfüllten Lebens galt: die vertraute Nachbarschaft, feste Freundschaften und nicht zuletzt ein fester Charakter. Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein, bring keine Opfer! So lauten die Maximen eines flexiblen Lebens.[4]

Am unmittelbarsten zeigen sich die Flexibilisierungszwänge in der Arbeitswelt selbst. In einem Aufsatz des Arbeitsmarktexperten Karl Hinrich heißt es treffend: „Bei allen Zielsetzungen der Arbeitszeitflexibilisierung geht es den Betrieben darum, eine nach Dauer und Zeitpunkt beliebig abrufbare sowie dem Rhythmus des Betriebsgeschehens angepasste Nutzung der Arbeitskraft ´wie aus dem Wasserhahn´zu verwirklichen.“[5] Um auch psychologisch über die Arbeitskraft der Arbeitnehmer zu verfügen und optimale Anpassungsergebnisse an wechselnden Arbeitssituationen zu gewährleisten, wird das Personalmanagement mit Hilfe von Methoden, die wir aus Diktaturen bestens kennen, auf Vordermann gebracht. Die Mitarbeiter müssen sich auf Leitbilder und „Credos“ verpflichten. In einem solchen Credo, das für die Fortbildung von Klinikpersonal entwickelt wurde, heißt es zum Beispiel: „Wir sind höflich am Telefon und melden uns innerhalb von drei Klingeltönen mit einem Lächeln.“ Oder: „Wir identifizieren uns mit den Zielen des Unternehmens und sind ihm gegenüber loyal“, denn „der Patient ist unser Arbeitgeber“.[6] Das ist Gehirnwäsche, die sich offenbar nicht gar zu tarnen braucht. Der flexible Arbeitnehmer muss ein für allemal das Bewusstsein davon aufgeben, dass seine Interessen nicht von vornherein identisch sind mit denen seines wirklichen Arbeitgebers sind.

Das Prinzip „Hauptsache flexibel“ prägt die gesamte Lebensplanung des Menschen. Die ganze Gesellschaft wird „verwirtschaftet“ und damit geht eine „Menschenverachtung“ einher, die sich als „Liberalisierung“ „maskiert“, stellt Norbert Blüm treffend fest.[7] Bereits die Gründung einer Familie erweist sich als enormes Flexibilitätshindernis. Die Zeit, die Menschen für Familie und Kinder benötigen, fehlt dort, wo berufliche Notwendigkeiten wie Aus- und Fortbildungen, Dienstreisen oder auch nur das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsstätte unsere Lebenszeit beanspruchen. Die meisten Berufspendler empfinden das als Zwang, der nur Nachteile mit sich bringt, sie sind nicht freiwillig mobil.[8] Sie klagen über Zeitmangel, den Verlust von sozialen Kontakten und die Entfremdung vom Partner und von den Kindern. Dem entsprechend ist auch die Zeit, die Eltern, vor allem Väter, mit ihren Kindern verbringen, nach Auskunft der Statistik dürftig bemessen: Im Durchschnitt beschäftigen sich Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern 10 Minuten pro Tag. 10 Minuten spielen sie mit ihren Kindern, treiben Sport mit ihnen oder gehen auch nur mit ihnen spazieren.[9] Drücken wir es etwas deutlicher aus: Der Tag hat 24 Stunden. Für die Kinder bleibt davon genau ein Hundertvierundvierzigstel!

Die flexible Gesellschaft bringt überhaupt recht interessante Formen der Kommunikation und des Umgangs mit Traditionen hervor. Seit einiger Zeit gibt es zum Beispiel die Institution des „Speed Dating“ zur effektiven Partnersuche: Sieben Männer und sieben Frauen sitzen sich in einer Kneipe sieben Minuten lang gegenüber und entscheiden dann, mit wem sie sich wieder treffen wollen und mit wem nicht.[10] Alle Gewohnheiten müssen heute auf den Flexibilisierungsprüfstand. Der Flexibilitätssteigerung dient zum Beispiel auch die schrittweise Abschaffung der letzten Feiertage, die es noch gibt. Aus Börsianer-Kreisen hören wir schon den Vorschlag, alle Feiertage bis auf den ersten Weihnachtsfeiertag und den Neujahrstag abzuschaffen.[11] Und auch die Kirche muss sich in einer flexiblen Welt offenbar zur Dienstleistungseinrichtung entwickeln, zunehmend pragmatisch mit Traditions- und Glaubensfragen umgehen und sich der Methoden der Spaßgesellschaft bedienen: Pfarrer wetteifern um den Weltrekord im Dauerpredigen, der derzeit bei 28 Stunden und 45 Minuten liegt.[12] Und der Inhaber eines Beerdigungsinstituts in der Autostadt Detroit veranstaltet eine sogenannte „Drive-in-Trauer“, die es erlaubt, in nur 30 Sekunden Abschied von dem Toten zu nehmen, wobei nach Auskunft des Unternehmers sogar zwei Leichen gleichzeitig betrachtet werden können.[13]

[1]: Vogel Wolf (1992), „Dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind!“, in: DIE DEMOKRATISCHE SCHULE, Heft 9, S. 11 f. ↑

[2]: DER SPIEGEL 37/1993, S. 109. ↑

[3]: Sennett Richard (1998), The Corrosion of Character, New York (zitiert nach der deutschen Ausgabe: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter, Berlin 2000, S. 25). ↑

[4]: Sennett 1998, a.a.O., S. 37 f. ↑

[5]: Hinrichs Karl (1992), Die Zukunft der Arbeitszeitflexibilisierung. Arbeitnehmerpräferenzen, betriebliche Interessen und Beschäftigungswirkungen, in: SOZIALE WELT, Heft 43, S. 313-330, hier S. 322. ↑

[6]: Persönliche Mitteilung. ↑

[7]: Süddeutsche Zeitung 21.3.2002 ↑

[8]: Einer Studie der Universität Mainz über Berufspendler zufolge ist in Deutschland bereits jeder sechste Berufstätige, der in einer Partnerschaft lebt, aus beruflichen Gründen mobil. 42 Prozent der befragten Männer und 69 Prozent der Frauen empfinden den Zwang zur beruflichen Mobilität als hemmend für die Gründung einer Familie (Süddeutsche Zeitung 29.8.2001). ↑

[9]: Presseinformation Mehr Zeit für Kinder e.V. v. 6.9.2000. ↑

[10]: DER SPIEGEL 12/01, S. 209. ↑

[11]: Süddeutsche Zeitung 30.12.1998. ↑

[12]: Neue Presse Coburg 2.7.2001. ↑

[13]: Frankfurter Rundschau 2.8.1986. ↑