Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 5. Gefangen im Hamsterrad
Aber die Hamster sind klüger
5. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:
Geld verdienen und Geld ausgeben, und Beides möglichst schnell und pausenlos, damit man in der Konkurrenz nicht zurückfällt – dieses Leben des so genannten modernen Menschen wird gern mit dem Leben des Hamsters im Hamsterrad verglichen. Hamsterräder sind zunächst nur harmlose Spielzeuge für Nagetiere. Was haben diese Spielzeuge der Hamster mit den Technologien, Institutionen und Verhaltenszwängen der Menschen in der modernen Gesellschaft gemeinsam?
Erstens macht es den Hamstern offenbar immer wieder Spaß, in das Rad zu steigen und loszutreten, vielen Menschen auch. Dies aber ist die schwächste Seite unseres Vergleichs. Bezeichnender ist schon, dass zweitens die Hamster bei all ihrer Treterei nicht vom Fleck kommen, wie auch Menschen ganz oft das Gefühl haben, trotz riesigen Energie- und Zeitaufwands nur auf der Stelle zu treten. Wenn das Hamsterrad dann einmal in Fahrt gekommen ist, heißt es drittens: Mithalten! Besonders für Nachzügler, die noch dazusteigen, ist das keine ungefährliche Angelegenheit. Da kann man leicht den Tritt verfehlen und unsanft auf Rücken oder Bauch landen. Das gilt für Hamster und für Menschen.
Noch etwas fällt auf: Die Physik des Hamsterrades ist eine ziemlich hinterhältige Physik: Je schneller man in ihm tritt, desto schneller dreht sich das Rad. Und je schneller sich das Rad dreht, desto schneller müssen diejenigen, die sich in seinem Inneren befinden, treten. Das Hamsterrad hat also eine eingebaute positive Rückkoppelung. In diesem Punkt unterschiedet sich das Hamsterrad von der alten Tretmühle, bei der es genau um die Konstanz der Geschwindigkeit ging, mit der zum Beispiel Lasten gehoben werden sollten. Der Witz ist nun, dass die Hamster offenbar klüger mit dieser Rückkoppelung umgehen als die Menschen. Wenn die Hamster keine Lust mehr haben, steigen sie aus. Die Menschen tun das meistens nicht. Dieser Rückkoppelungsprozess, der das Rad immer schneller und das Treten immer anstrengender werden lässt, begegnet uns in der Welt des schulischen Lernens, des Arbeitens, des Konsumierens etc. überall dort, wo die erwarteten Gütestandards mit den erbrachten Leistungen ständig zunehmen. Die Menschen treten im Hamsterrad also nicht nur allzu oft auf der Stelle, sondern sie tun dies zudem noch mit steigendem Aufwand.
Aber glücklicherweise gibt es jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung bewahren wollen. Ihre Fluchtwege und Notausstiege aus dem Hamsterrad lauten: kluges Zeitmanagement, Mut zum einfacheren Leben mit weniger materiellem Konsum, Teilzeitarbeit, Sabbatjahre usw. Nur bleiben angesichts solcher Ratschläge immer wieder offene Fragen: In welchen Lebensbereichen sind wir überhaupt Herren unserer Zeit? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele, die unter dem Hamsterrad leiden, gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, der wird oft über kurz oder lang umso mehr strampeln müssen, wird in vielen Fällen schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.
Wenn der individuelle Fluchtweg in eine Sackgasse führt, bleibt immer noch ein zweiter: ein kollektiver. Als Menschen haben wir eine Möglichkeit, welche den Hamstern verschlossen ist: Wir können prüfen, ob wir das Rad nicht gemeinsam und koordiniert verlassen und so die rasende Fahrt in die globale Erschöpfung beenden können. Diese Prüfung erfordert einige Fragen: Wer hat uns das Hamsterrad eigentlich hingestellt? Gott? Die Natur? Bestimmte Mitmenschen, die uns keine Ruhe gönnen? Haben wir es uns gar selbst gebastelt? Die Antworten auf diese Fragen münden in mehr als persönliche Zeithygiene: in Zeitpolitik. Zeitpolitik erleichtert es den Menschen systematisch, mit sich, ihren Mitmenschen und den natürlichen Lebensgrundlagen rücksichtsvoller umzugehen – und das heißt in vielen Fällen, ihnen mehr Zeit und Ruhe zu lassen.