Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 7. Der Tumor wächst

Über die Folgen unkontrollierten Wachstums

7. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Aus der Chronobiologie wissen wir, dass Organismen durch Kreislaufprozesse am Leben erhalten werden, welche Auf- und Abbauvorgänge in ein Gleichgewicht bringen. Die vom Hamsterrad der modernen Industriegesellschaft in unserer Innen- und Umwelt erzeugten Erschöpfungsprozesse unterbrechen diese Kreisläufe künstlich und zerstören die Gleichgewichte auf Dauer. An die Stelle zyklischer Verläufe treten lineare Abbauprozesse. Dafür gibt es viele Belege. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter die Rhythmen des Körpers schwächer werden und durcheinander kommen: der Wechsel von Wachsein und Schlafen, von Anspannung und Entspannung, von Gesundheit und Krankheit. Da sind zum Beispiel Herzzellen, die kurz vor dem Herztod aus dem Tritt geraten. Und da sind vor allem die Krebszellen. Sie unterscheiden sich von gesunden Zellen dadurch, daß sie ihre Fähigkeit zur rhythmischen Teilung verloren haben, aus der Zeitordnung der gesunden Zellen ausgebrochen sind und sich, losgeslöst von ihrer jeweiligen Umgebung im Körper, mit einer vielfach höheren Geschwindigkeit zu teilen beginnen.[1]

Rolf Kreibich, Professor für Technologieentwicklung in Berlin, hat auf die verblüffende Analogie zwischen dem Wachstum eines bösartigen Tumors und dem Wachstum der Industriekultur aufmerksam gemacht: Beide Prozesse gehen auf eine irgendwann stattgefundene einzelne Mutation zurück, beide beschleunigen sich nach dem Muster 2 – 4 – 16 – 156 usw. und haben explosive Tendenzen, beide resultieren aus fehlgesteuertem Wachstum, aus falschen Rückkoppelungsprozessen. In beiden Fällen haben die wachsenden „Subjekte“ das Ziel des Wachsens aus den Augen verloren. Beide wuchern auf Kosten ihrer Umwelt. Ihr einziger Zweck ist der maximale Energieumsatz, die Völlerei. Und beide Entwicklungen führen zu einer umfassenden Destrukturierung, die – wenn nichts dagegen unternommen wird – mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führt.[2]

Vielleicht läßt sich diese Analogie für das Schicksal der menschlichen Spezies noch fortsetzen: Das Bevölkerungswachstum des Südens und das Produktionswachstum des Nordens wird nicht mehr gesteuert durch einen kulturell bewährten Rhythmus, sondern vollzieht sich autonom. Es ist aus der Zeitordnung der jeweiligen natürlichen und kulturellen Umwelt ausgebrochen. Dies zeigt sich an unserer Siedlungsweise und an unserem Verkehr besonders drastisch. Schauen wir uns nur einmal eine gewachsene Ortschaft aus der Vogelperspektive an: Im Zentrum und im mittleren Bereich organisch verbundene Häuser und Straßen, an den Rändern, in den sogenannten Gewerbegebieten, wuchernde Fremdkörper, allesamt aus den letzten Jahrzehnten stammend, so als würden sie darauf warten, gleich wieder weggeschnitten zu werden. In der Tat gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen der Abbildung eines weit fortgeschrittenen Hautkrebses und der Luftaufnahmen einer modernen Großstadt. Oder schauen wir uns den Globus aus dem Weltraum an: die gigantische Mobilität, die Entwurzelung und Bindungslosigkeit – im Norden als Massenverkehr, im Süden als Massenmigration.

Die „Spitze“ der menschlichen Kulturentwicklung im Norden der Welt beweist eindrucksvoll, dass der Mensch heute je nach Zwecksetzung fast beliebig Raum und Zeit überwinden kann. Menschen, Sachen und Informationen legen in immer kürzeren Zeiten immer weitere Strecken zurück, entfernen sich aus jenem Milieu, mit dem Natur und Kultur sie umgeben haben. Das selbe tun Krebszellen, die den Körper mit Metastasen überschwemmen. Je ausgeprägter die Beschleunigung, desto eher ist es mit dem Leben zu Ende. Für den französischen Zeitphilosophen Paul Virilio läuft die Beschleunigung auf nichts anderes hinaus als auf die „Liquidierung der Welt“.[3] Das alles geschieht freilich nur, wenn es nicht gelingt, den hinter der Mutation steckenden Programmierungsfehler zu finden und zu beheben.

[1]: Mletzko Horst G. / Mletzko Ingrid (1991), Die Zeit und der Mensch, Leipzig-Jena-Berlin, S. 76. ↑

[2]: Kreibich Rolf (1991), Zukunft als gestaltbare Zeitdimension, in: Burmeister Klaus / Canzler Weert / Kreibich Rolf (Hg.), Netzwerke. Vernetzung und Zukunftsgestaltung, Weinheim, S. 23-42, hier S. 23f. ↑

[3]: Virilio Paul, zit. nach Breuer Stefan (1992), Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg, S. 132. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 8. Was treibt uns eigentlich so?

Die Zeithierarchie der Märkte – oder: Das Geld ist immer schneller

8. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Der Wirtschaftsliberalismus verspricht seit über 200 Jahren das Paradies auf Erden: Wenn wir Angebot und Nachfrage frei schalten und walten lassen, dann bewirkt die „unsichtbare Hand des Marktes“, dass die Wünsche der Menschen bestmöglich zufrieden gestellt werden. Dass sich das Paradies bisher nicht zeigt, liegt nicht so sehr am ständigen Dazwischenfunken des Staates, sondern an den Konstruktionsfehlern der Marktlogik selbst. Heute wird immer klarer: Die Geld- und Kapitalmärkte kommandieren alle anderen Märkte. Sie geben den Takt der Weltwirtschaft vor.

Dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ einer ganz bestimmten Sorte von Nachfragern, nämlich den Nachfragern nach Dividenden und Zinsen, derart die Regie überlässt, wollen und können die Apologeten des Marktes nicht zur Kenntnis nehmen. Zum einen, weil es ihr gesamtes Denkgebäude durcheinander brächte. Zum andern, weil in diesem Denkgebäude der Faktor Zeit der Abstraktion zum Opfer gefallen ist. Dort heißt es nämlich, Preise würden sich unendlich schnell den Mengen anpassen. Nur so kommen jene eleganten Kurven und Gleichgewichtspunkte zustande, die unsere Wirtschaftslehrbücher zieren. Diese Zeitblindheit des herrschenden Marktmodells macht es blind für die Wirklichkeit der Märkte. Das zeigt ein Blick auf die Märkte selbst. Unterscheidet man Märkte zunächst nur danach, was auf ihnen gehandelt wird, so gibt es, grob gesehen, vier Arten von Märkten: Erstens Märkte für Ressourcen, die von der Natur gratis bereitgestellt sind, vom Menschen allerdings erst erschlossen werden müssen. Zweitens Märkte für Arbeitskräfte. Drittens Märkte für Produkte. Und viertens Märkte für Geld, das für den Kauf von Ressourcen, Arbeitskräften und Produkten mit dem Zwecke der Geldvermehrung dient und deshalb gemeinhin Kapital genannt wird.

Der Witz bei dieser Unterscheidung, besteht nun darin, dass von den Ressourcen- über die Arbeits- und Güter- bis hin zu den Geld- bzw. Kapitalmärkten in Hinblick auf die von der herrschenden ökonomischen Theorie ausgeblendete Zeitdimension sich etwas Entscheidendes verändert: Die Zeit, die die Anbieter von Waren benötigen, um im Falle einer Veränderung der Nachfrage zu reagieren, nimmt drastisch ab.

Zum einen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit der Märkte von der räumlichen Mobilität der Waren ab. Ressourcenmärkte sind in dieser Hinsicht die langsamsten, weil viele Ressourcen an ihrem Ort eingewurzelt sind und auf Veränderungen der Nachfrage hin nicht beweglich gemacht werden können. Man denke zum Beispiel an Bodenschätze im Erdinneren oder an klimaabhängige Pflanzen. Arbeitsmärkte sind schon etwas schneller, weil Menschen auf Nachfrageveränderungen hin durchaus ihren angestammten Ort verlassen, wobei sie freilich durch ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Familie, ihre Ausbildung etc. in ihrer Flexibilität begrenzt sind. Gütermärkte sind noch wesentlich schneller, weil die meisten Güter mit Hilfe der modernen Transporttechnik in realativ kurzer Zeit von A nach B transportiert werden können und es in der Regel ein Leichtes ist, Werbung und Vertrieb auf den jeweiligen Ort einzustimmen. Kapitalmärkte aber sind ohne jeden Zweifel die schnellsten: Es dauert bekanntlich nur Sekunden, um gigantische Summen rund um den Globus zu dirigieren. Bereits Mitte der 90er Jahre schätzte man, dass pro Tag zwei Billionen Dollar auf den weltweiten Kapitalmärkten umgesetzt wurden – davon übrigens nur ein verschwindender Anteil zum Zwecke der Abwicklung des Außenhandels.[1] Der „Rest“ zum Spekulieren.

Die unterschiedlichen Reaktionszeiten hängen zum zweiten davon ab, wie schnell an einem gegebenen Ort die nachgefragten Waren vermehrt werden können. Ressourcen sind teils nicht, teils nur sehr langsam vermehrbar. Selbst regenerierbare Ressourcen wie Pflanzen und Tiere reagieren oft nur sehr begrenzt und träge, weil die Natur meist nicht so schnell ist, wie die Nachfrager dies wünschen. Arbeitskräfte sind oft schon etwas schneller. Bei ihnen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit vor allem vom Erwerb ihrer Qualifikationen ab. Güter können in der Regel ziemlich schnell nachproduziert werden, wenn die technischen Voraussetzungen bereits vorliegen. Geld bzw. Kapital aber kann in Sekunden vermehrt werden, allein durch einen Willensentschluss – bei Staaten als Ausgabe neuer Geldscheine, bei Banken als Ausgabe von Krediten, bei Privaten als Kauf- bzw. Zahlungsversprechen.

Opfer dieser Zeit-Hierarchie der Märkte sind alle Langsamen und Eingewurzelten. Erstens die Arbeitnehmer mit ihren Familien, Nachbarn, Freunden etc. Zweitens die mittelständischen Unternehmen mit ihrer lokalen Verbundenheit und ihren vielfältigen Verpflichtungen für die Kommunen. Die Situation des Mittelstands ist durch seine besonders prekäre Lage innerhalb der Zeit-Hierarchie der Märkte gekennzeichnet: Eingezwängt zwischen dem hoch-dynamischen und anonymen Geldmarkt einerseits und dem wenig-dynamischen Arbeitsmarkt mit den konkreten Beziehungen zu Menschen andererseits, muss dem Mittelstand im globalen ökonomischen Hamsterrad als erstem die Luft ausgehen. Und Opfer sind schließlich auch die Kommunen, die Lernorte der Demokratie, die zur Zeit alles verscherbeln, was nicht niet- und nagelfest ist, um nicht zahlungsunfähig zu werden.

[1]: Altvater Elmar (1995), Wettlauf ohne Sieger. Politische Gestaltung im Zeitalter der Geo-Ökonomie, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK, Heft 2, S. 192-202, hier S. 193 f., und Altvater Elmar / Mahnkopf Birgit (1999/2000), Entschleunigung der Finanzströme durch die Tobin-Steuer, in: WIDERSPRUCH 38, S. 43-46. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 9. Zeitmaße

Welches Tempo tut uns gut? – Über die Bedeutung von Eigenzeiten

9. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

„Ein jegliches hat seine Zeit“: „Geboren werden, Sterben, Pflanzen, Ausrotten, das gepflanzt ist, Würgen, Heilen, Brechen, Bauen, Weinen, Lachen, Klagen, Tanzen, Steine zerstreuen, Steine sammeln, …, Behalten, Wegwerfen, Zerreißen, Zunähen, Schweigen, Reden, Lieben, Hassen, Streit, Friede.“ (Die Bibel, Altes Testament, Prediger 2, 3)

Es ist eine uralte Erfahrung, dass wir zu ganz bestimmten Zeiten ganz bestimmte Dinge tun, weil sie genau jetzt getan werden müssen. Es waren zunächst ungeschriebene, sehr viel später erst geschriebene Gesetze, die festlegten, was wann zu tun und zu lassen ist. Diese Gesetze waren zumeist aus den Notwendigkeiten der Natur oder den Traditionen der Kultur abgeleitet. Heute können und müssen wir immer häufiger selbst entscheiden, wann was zu tun ist und wann nicht. Diese Zeiterfahrung bzw. Zeitform nannten die alten Griechen „Kairos“. Jeder weiß, wie wichtig der richtige die Wahl des Zeitpunkts sein kann: wenn wir die Blumenwiese mähen oder das Blumenbeet jäten wollen, wenn wir eine Grippetablette einnehmen oder den Kindern etwas Neues erschließen wollen, wenn wir mit unserem Partner ein Problem angehen oder in ein neues Projekt investieren wollen usw.

Neben der Erfahrung vom rechten Zeitpunkt gibt es noch eine andere elementare Zeiterfahrung. Vor einigen Jahren habe ich auf einer einwöchigen Fahrradtour quer durch Deutschland eines Morgens versucht, mich an einen vor mir her fahrenden anderen Fernradler „anzuhängen“, der offenbar die Strecke schon besser kannte und nicht ständig auf die Karte sehen und auf Ausschilderung achten musste. Der voraus fahrende Radler fuhr etwa das selbe Tempo wie ich. Gegen Mittag allerdings war ich so erschöpft, wie gewöhnlich erst am Abend. Warum? Mein Lotse war offenbar doch eine Idee schneller, zunächst kaum merklich, aber auf längere Sicht mit enormen Konsequenzen für meinen Kräftehaushalt. Wichtig für unseren Umgang mit Zeit ist offenbar nicht nur, dass wir den Kairos erwischen, sondern auch, dass wir uns darauf einrichten, dass alles seine eigene Geschwindigkeit hat. Die Zeitdauer zur Überwindung einer Strecke lässt sich nicht beliebig verkürzen. Es kommt also auch auf den „Chronos“ an, die Zeit, die wir messen können – und die angemessen sein kann oder auch nicht.

Angemessene Zeiten gibt es außer im Zusammenhang mit Bewegungen, also mit Veränderungen des Ortes, auch bei Veränderungen von Zuständen. Solche Veränderungen werden oft als Prozesse bezeichnet. Das biologische Wachstum von Pflanzen, Tieren und Menschen, das Erlernen der Muttersprache oder von Fremdsprachen, die Lösung von Rechenaufgaben oder die Lektüre eines Buches, die intellektuelle und moralische Entwicklung des Menschen, das Erfinden und Bedienen von Werkzeugen usw. – all dies erfordert seine Zeit. Von Chronos kann auch in Zusammenhang mit anderen Arten von Zustandsveränderungen gesprochen werden. Dort, wo wir ohne äußeren Zwang etwas tun, wenn wir zum Beispiel am Wochenende kochen, am Feierabend im Garten arbeiten, mit Kindern etwas basteln, können wir, wenn wir Glück haben, die Erfahrung machen, dass wir uns soviel Zeit lassen können, wie wir benötigen, um die Aufgaben abzuschließen.

Radfahren, Kochen, Basteln, Spielen usw. sind in der Sprache der Psychologie und Soziologie Formen menschlichen Handelns. Handeln kann als Verlängerung des menschlichen Organismus verstanden werden. Das zeigt ja schon das Wort „Handlung“: etwas mit der Hand tun. Jeder weiß, wie ärgerlich und auf Dauer kräftezehrend es ist, wenn Handlungen die erforderliche Zeitdauer nicht zugestanden wird, wenn sie ständig unterbrochen werden müssen – durch das Klingeln des Telefons, durch ein dringendes Anliegen des Kollegen, durch Gedanken, die einem ständig in die Quere kommen. Wie gut tut es dagegen, eine Sache abgeschlossen zu haben, das Ergebnis betrachten zu können und mit seinem Werk zufrieden zu sein. Auch Handlungen als Verlängerungen des Organismus sind also offenbar generell durch eine je eigene Zeitdauer charakterisiert.

Neben den äußeren Handlungen benötigen auch die Veränderungen im menschlichen Organismus selbst, verstanden als Zusammenwirken von Körper und Psyche, eine gewisse Zeit. Wenn der Mensch zum Beispiel frische Luft einatmet und verbrauchte ausatmet, so dauert dieser Austauschprozess im Durchschnitt bei allen Menschen etwa ein bis drei Sekunden. Wenn dieser Prozess durch äußere Gewalteinwirkung, durch physischen oder psychischen Druck, gestört wird, sind die Konsequenzen sehr schnell spürbar – als Atemnot, Anspannung, Verkrampfung und ähnliches. Vergleichbares gilt für die Zeiten des Wachseins und des Schlafens, die Zeiten der Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung und der Verdauung und Ausscheidung, die Zeiten der Bestrahlung der Haut durch die Sonne.

Schließlich hat auch die Bewegung und Haltung des Körpers mehr mit Zeit zu tun, als uns gemeinhin bewusst ist. So sind Bandscheibenprobleme in der Regel die Folge einer meist viele Jahre währenden Missachtung der Eigenzeiten des Rückgrats: 15 bis 20 Minuten Sitzen, 15 bis 20 Minuten Stehen, 15 bis 20 Minuten Gehen – und dann wieder von vorne, auf diesen Rhythmus hat die Evolution unser Rückgrat optimiert. Auch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen braucht ihre Zeit, die sich bemerkbar macht, wenn „der Kopf voll“ ist oder „der Schädel brummt“. Und schließlich können auch unsere Gefühle „reif“ sein für die Begegnung mit einem Menschen oder die Beschäftigung mit einer Sache.

Kurz: Alle Arten von Veränderung, unabhängig davon, ob sie die Lage, die Situation oder die Gestalt betreffen, benötigen ihre Zeit. Auch der Austausch zwischen Menschen und ihren Umwelten – wie natürlich auch zwischen Tieren, Pflanzen, Organen und ihren Umwelten – braucht seine Zeit, ganz gleich, ob dieser Austausch sich als Handlung verselbstständigt hat oder ob er an Austauschmedien wie Luft, Nahrung, physikalische Kräfte oder Informationen gebunden ist. Dieses universelle Phänomen wird seit Langem als „Eigenzeit“ bezeichnet. Wenn die Eigenzeiten und Rhythmen, die Körper und Psyche innewohnen, ignoriert werden, wenn uns unsere Umwelt also Gewalt antut, kann dies katastrophal enden: In Fesseln oder ohne ausreichende Bewegungsfreiheit kann nicht gehandelt werden. Mit verschnürtem Hals oder nach Entzug von Sauerstoff aus der Raumluft kann nicht geatmet werden. Ohne ausreichendes Tageslicht mit gelegentlichem Sonnenschein können viele Menschen nachts nicht mehr recht schlafen und werden auch tagsüber depressiv. Und ohne Veränderungen in der Umwelt des Menschen und damit ohne geistige Anregungen kann der Mensch leicht emotional und intellektuell verkümmern.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 10. Entschleunigung

Das Hamsterrad stoppen: Zeithygiene und Zeitpolitik

10. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Es gibt jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung im Hamsterrad bewahren wollen. „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“ und „Gute Arbeit braucht ihre Zeit“, so heißen die Botschaften des modernen Zeitmanagements. Für eine wirkliche Befreiung vom Hamsterrad ist es jedoch wichtig, dass mit Hilfe solcher Ratgeber nicht nur Beschleunigungsfallen vermieden werden, sondern dass die so gewonnene Zeit auch wirklich frei bleibt und nicht gleich wieder „investiert“ und „verwertet“ wird.

Um solche Zeit, die von den Zwängen des Arbeitens und Konsumierens frei bleibt, geht es zum Beispiel den Kirchen, die den Wert des Feierabends, der Sonn- und der Feiertage anmahnen und verteidigen. Und auch das Plädoyer für Teilzeitarbeit und Sabbatjahre zielt auf die zumindest teilweise Befreiung aus dem Hamsterrad. Man kann in der Tat Nischen finden, Oasen der Ruhe, „Kurorte der Zeit“.[1] In solchen Kurorten der Zeit wird Zeit nicht für irgendeinen fremden Zweck genutzt, sondern sie vergeht einfach nur. Das können jene kleinen Fluchten sein, in denen ich mich dem Zwang, am Arbeitsplatz ständig Leistung erbringen zu müssen, entziehe – indem ich aus dem Fenster schaue und vor mich hin döse, indem ich ausgiebig auf die Toilette gehe, indem ich in einer ausgedehnten Kaffepause meinen Kommunikationsbedürfnissen nachgehe, indem ich meinen Mittagsschlaf im Büro abhalte oder die sogenannte Stille Stunde genieße. Wohlgemerkt: Nicht als Mittel der Leistungssteigerung, sondern als Mittel zur Schaffung einer leistungsfreien Zone, die allein der Optimierung des Wohlbefinden dient.

Wie wäre es, auch die größeren Zeitinseln einmal anders als gewohnt zu nutzen, auf das evolutionäre Prinzip von Variation und Selektion zu setzen und zu experimentieren: am Feierabend nicht als erstes den Fernseher anzuknipsen, am Wochenende und im Urlaub einmal das Auto in der Garage zu lassen, das Konsumverhalten zu überprüfen usw. Probieren Sie einmal die Einführung eines „Kauf-nix-Tages“ oder das „Safer Shopping“ mit Hilfe eines „Kreditkarten-Kondoms“![2]

Oder nehmen wir zum Beispiel die Gestaltung des Urlaubs: Wir könnten uns mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß auf den Weg machen, könnten bei solchen Experimenten mit langsameren Formen der Fortbewegung entdecken, dass mit der Reduktion der Reisegeschwindigkeit eine Intensivierung der Sinneseindrücke und damit der Sinnlichkeit des Reisens einhergeht, dass man beim Radeln und erst recht beim Wandern unendlich mehr sieht, hört, riecht und schmeckt als in Auto, Zug oder Flugzeug. Mit sanfteren Bewegungstechniken ergeben sich in der Regel auch ganz neue Formen der Begegnung mit Menschen und Tieren am Wegesrand. Drei Wochen mit dem Fahrrad in Südfrankreich unterwegs – in der Erinnerung kann das schnell als südfranzösischer Sommer verbucht werden. Ein kostensparender Weg zur Verlängerung des Urlaubs!

Aber bei all diesen kleineren und größeren Fluchtwegen und Notausstiegen aus dem Hamsterrad bleiben offene Fragen: Wie können wir uns gegen die Verführungen der Werbung und die Erwartungen unserer Mitmenschen eigentlich zur Wehr setzen? In welchen Lebensbereichen ist solcher Eigensinn überhaupt möglich? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Der individuelle Wege aus dem Hamsterrad führt allzu oft in eine Sackgasse. Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, muss vielleicht sogar über kurz oder lang umso mehr strampeln, er wird schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.

Deshalb muss zur Zeithygiene etwas Zweites dazukommen – die Zeitpolitik. Unter Zeitpolitik versteht man grundsätzlich all jene politischen Bemühungen, die dem Schutz von evolutionär entstandenen Eigenzeiten dienen und zwar dort, wo sie von ökonomisch erzwungenen Programmzeiten bedroht sind. Politisch sind Bemühungen dann, wenn sie nicht nur individuell ansetzen, sondern von Anfang an Einfluss auf die verbindliche Festlegung und Durchsetzung jener Spielregeln zielen, die in einem Gemeinwesen gelten und für die der Staat zuständig ist. Wie in anderen Politikbereichen so stehen dem Staat auch bei der Zeitpolitik grundsätzlich drei Arten von Maßnahmen zur Verfügung: Er hat erstens die Möglichkeit, Verhaltensweisen seiner Bürger durch positive Anreize, vor allem finanzielle Subventionen, zu belohnen, andere Verhaltensweisen durch negative Anreize, also Steuern und Abgaben, zu bestrafen. Er hat zweitens die Möglichkeit, seinen Bürgern bestimmte Verhaltensweisen zu gebieten oder zu verbieten. Und in vielen Fällen stellt der Staat drittens zusätzlich noch Mittel bereit, die zur Nutzung des gebotenen Verhaltens bzw. zur Vermeidung des verbotenen Verhaltens hilfreich sind.

Inhaltliches Ziel von Zeitpolitik müsste der Schutz von Eigenzeiten sein, und zwar auf allen drei Ebenen – beim Umgang mit der natürlichen Umwelt, mit der kulturellen und sozialen Mitwelt und mit uns selbst. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, sich, andere und die Natur zu hetzen. Der Einstieg ist längst gemacht. So wie Ökosteuern die Regenerationsfähigkeit der Natur schützen, so müsste eine mutige Familien-, Sozial- und Gesellschaftspolitik dafür sorgen, dass auch für die Erhaltung von Familien, für die Sorge für Kinder, Jugendliche und Alte und für die Pflege des gesamten Gemeinwesens genügend Mittel und Zeit zur Verfügung gestellt werden. Dass Eltern in aller Ruhe ihre Kinder großziehen können, dieses Ziel müsste Vorrang vor vielen anderen Zielen in unserem Gemeinwesen haben. Und Zeitpolitik müsste auch die Eigenzeiten von Körper uns Psyche dort unter Schutz stellen, wo sie in Schulen und an Arbeitsplätzen vergewaltigt zu werden drohen. Eine so reiche Gesellschaft wie die unsere könnte und sollte sich für die wirklich wichtigen Dinge im Leben genug Zeit lassen können.

[1]: Pleterski/Habinger 1999, a.a.O., S. 7. ↑

[2]: De Graaf John de / Wann David / Naylor Thomas (2002), Affluenza. Zeitkrankheit Konsum, München, S. 279-357. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 11. »Müßiggang ist aller Liebe Anfang« (Christa Wolf)

Das Arbeitsethos hat ausgedient

11. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Die Angst vor Arbeitslosigkeit scheint mittlerweile größer als die Angst, krank zu werden.[1] Deshalb versprechen alle Parteien wie aus einem Munde: Wir schaffen neue Arbeitsplätze!

Man muss angesichts einer solchen Fixierung des öffentlichen Bewusstseins immer wieder in Erinnerung rufen, dass zwar die Arbeit so alt wie der Mensch selbst ist, ihre ideologische Verklärung aber erst seit wenigen Jahrhunderten die Köpfe der Menschen verdreht. In der griechischen Antike war Arbeit Sache der Sklaven, eines freien Bürgers unwürdig. Dessen Aufgabe waren die Staatsgeschäfte, die Pflege von Kultur und Wissenschaft und nicht zuletzt der schlichte Genuss des Lebens, die Veredelung des Genießens. Heraklit von Ephesos soll sich seines Vermögens, das er mit selbst erfundenen Ölmühlen erworben hatte, geschämt haben. Aber nicht deshalb, weil darin Sklaven arbeiten mussten, sondern weil er hohe mathematische Ideen durch ihre kommerzielle Anwendung quasi entweiht hatte. Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verboten Tradition und Recht dem Adel als der führenden Schicht der Gesellschaft jegliche gewerbliche Betätigung. Erst das Christentum begann mit der Aufwertung der Arbeit. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, heißt es schon im Neuen Testament. Die Katholische Kirche setzte Gebet und Arbeit als unterschiedliche Formen des Dienstes an Gott gleich. Der Calvinismus verstieg sich sogar in die Behauptung, dass der Erfolg eines Menschen im Beruf das Zeichen Gottes für die Auserwähltheit dieses Menschen sei. Und als die Deutsche Arbeiterpartei, die spätere NSDAP, 1920 in ihr Parteiprogramm die „Adelung der deutschen Arbeit“ aufnahm, konnte sie direkt an dieses christliche Arbeitsethos anschließen.

Heute jedoch, nachdem sich die menschliche Produktivkraft vor allem in den letzten 200 Jahren historisch beispiellos entwickelt hat, verrichten Sklaven aus Eisen einen Großteil der Knochenarbeit und Skalven aus Silikon einen Großteil der Denkarbeit. „Eine ungeheure Wende, eine wahrhaftige Revolution liegt hinter uns“, schreibt der Münchner Journalist Christian Schütze in seinem Essay „Frieden durch Faulheit“.[2] „Biblisch gesprochen, haben wir uns vom Arbeitsfluch, der seit der Vertreibung aus dem Paradies auf uns Menschen lastet, freigeschafft – nicht wir allein, sondern ungezählte Generationen vor uns haben daran mitgewirkt. Die Früchte getaner Arbeit fallen uns jetzt überreich in den Schoß.“[3] Wer heute noch den Sinn des Lebens und seinen eigenen Selbstwert wie selbstverständlich aus Arbeit und beruflichem Erfolg ableiten möchte und obendrein Arbeitsunwillige als Drückeberger und Schmarotzer diskriminiert, hat diesen Wandel nicht begriffen: Weil der technische Fortschritt zumindest teilweise darauf zielt, menschliche Arbeit überflüssig zu machen, und dieses Ziel auch ständig erreicht, wird das alte Arbeitsethos immer fragwürdiger.

Das hat Konsequenzen für unsere Vorstellung von Wohlstand und Glück. Während in der alten Arbeitsgesellschaft Arbeit, Einkommen, materieller Wohlstand und Glück eine organische Einheit bildeten, kann und muss heute eine neue Idee von Wohlstand und Glück in den Blick kommen – Wohlstand und Glück als Verfügung über freie Zeit. Auch aus ökologischen Gründen ist uns mittlerweile ja klar, dass der alten Wohlstand nicht zukunftsfähig ist. Er ermöglicht nur eine kurzsichtige Form des Genusses, weil die zukünftigen Kosten dieses Wohlstands den Genießer selbst oder zumindest seine Kinder und Enkel einholen werden. So wie der Kater den Säufer nach einer durchzechten Nacht! Der griechische Philosoph Epikur kritisierte vor zweieinhalb tausend Jahren eine solche Art des Luststrebens bereits als ziemlich dumm. Es ist heute an der Zeit, mit der dummen Form der Lust auch die Arbeitsgesellschaft zu begraben, um mit der klugen Lust eine neue Gesellschaft der Muße zu begründen. Dass in ihr unter anderem auch gearbeitet wird, das ist und bleibt die Konsequenz des menschlichen Wesens. Vielleicht sollte man in einer Zeit, in der Arbeitsplätze aufgrund des technischen Fortschritts immer rarer werden, jenen eine Prämie zahlen, die auf sie freiwillig verzichten und sich zudem – entgegen den Verlockungen der Werbung – für ein bescheideneres Konsumniveau entscheiden. Eine Prämie für die Pioniere des Neuen Wohlstands, dem Wohlstand an Zeit für ein selbst bestimmtes Leben.

[1]: Neue Coburger Presse vom 20.11.2003 ↑

[2|: Schütze Christian (1989), Frieden durch Faulheit, in: GEO, Heft 3, S. 198 f.. ↑

[3]: Schütze 1989, a.a.O., S. 198. ↑

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 12. Slow Food

Der Anfang der Entschleunigung ist längst gemacht

12. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Italien, beliebtes europäisches Urlaubsland und eine der Wiegen der europäischen Kultur, gilt auch als ein Land der Sinnlichkeit und der Kunst des Genießens, nicht zuletzt des kulinarischen Genusses. Ausgerechnet im Herzen Italiens, in Rom, am Fuß der Spanischen Treppe, wollte McDonalds 1986 sein erstes italienisches Fast-Food-Restaurant eröffnen. Ein Affront für alle Freunde der italienischen Esskultur, den sie nicht widerstandslos hinnehmen wollten. Eine Gruppe von Journalisten aus dem traditionsbewussten Piemont, denen Essens- und Ernährungsthemen und die Bewahrung der italienischen Esskultur besonders am Herzen lag, wollte dem amerikanischen Schnellabfütterungskonzern eine unliebsame Überraschung bereiten. Am Tag der geplanten McDonals-Eröffnung veranstalteten sie am Ort der geplanten US-Frittierküche ein Sit-in mit besonderer Note: Es wurde nicht nur der Zugang zur McDonalds-Filiale blockiert, sondern man bot den hungrigen Italienern eine Alternative. Die Veranstalter der Protestaktion hatten alles mitgebracht, was für ein kulinarisches Fest nach italienischer Tradition erforderlich ist: lauter Produkte aus dem Umland von Rom. Man begann unter freiem Himmel zu kochen, ein köstliches Essen wurde bereitet, die besten Weine aus der Region wurden kredenzt – und bei all dem, und vor allem beim anschließenden Festmal, ließ man sich ganz viel Zeit.

An diesem Tag schlug in Rom die Geburtsstunde von „Slow Food“, der „Internationalen Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss“. Zwar gab es schon sehr viel früher Bewegungen, die u.a. aus dem Leiden am Tempo des Lebens geboren wurden. Die Wandervogelbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel wollte den Menschen die Natur näher bringen, sie die Gemeinschaft mit Anderen erfahren lassen und ihnen helfen, zu sich selbst zu finden. Auch die in allen Weltkulturen existierenden religiös und mystisch inspirierten Versuche, dem mit dem Lebenstempo zunehmenden Orientierungsverlust zu begegnen, sind im Kern Entschleunigungsprogramme. Meditation und rituelle Übungen sollen die Zeitpraxis des Menschen an die Zeitmaße der Schöpfung und des Schöpfers rückbinden. Aber Slow Food ist meines Wissens der erste organisierte Widerstand gegen die Beschleunigung, dem es schon vom Namen her um ein neues Verhältnis zur Zeit geht.

Dieser Bewegung gegen das schnelle Schlingen zum Zwecke der schnellen Geldvermehrung haben sich bis heute weltweit mehr als 70.000 Mitglieder in 42 Ländern unter dem Symbol der Schnecke zusammengeschlossen. Der Homo sapiens muss sich, so das „Slow-Food-Manifest“, von der Beschleunigung, die er selbst geschaffen hat und die ihn nun zu vernichten droht, befreien. Und weiter: „Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche, gegen die universelle Bedrohung durch das ´Fast Life´ zu verteidigen. Es ist kein Zufall, dass der Widerstand gegen das historisch beispiellose Ausmaß der Beschleunigung in der Moderne beim Essen beginnt. Den Widerstandskämpfern geht es dabei nicht nur um das Zeitlassen beim Essen und Kochen, sondern auch um die Zeitmaße beim Transport und bei der Herstellung unserer Lebensmittel. Hinter einer solchen Widerstandsbewegung gegen die Beschleunigung stehen nicht nur abermillionen Magengeschwüre, sondern auch die Einsicht: Nur wenn wir uns mit anderen zusammen tun, haben wir eine Chance, Sand ins Getriebe des rasenden Rades zu streuen. Je mehr Menschen, je mehr Sandkörner, um so besser.

Neben Slow Food gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Widerständen gegen das schnelle und pausenlose Leben. Leider sind sie bisher kaum bekannt: Zum Beispiel der Verein zur Verzögerung der Zeit, der jedes Vereinsmitglied verpflichtet, am Ort seiner Tätigkeit und überall dort zum Innehalten und Nachdenken aufzufordern, wo blinder Aktionismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produziert. Oder es gibt auch die gemeinsamen Bemühungen von Kirchen und Gewerkschaften, Sonn- und Feiertage zu retten und die Familienzeiten für Kommunikation, Erziehung, Trauer etc. vor dem Zugriff der Arbeitszeiten zu schützen. Oder die globalisierungskritische Bewegung Attac, die durch eine Devisentransfersteuer und andere Eingriffe in eine immer schnellere und risikoreichere globale Weltwirtschaft die Finanzströme entschleunigen möchte, um Risiken zu mindern und Mittel aus den hochdynamischen Zentren der Weltwirtschaft für jene Menschen abzuschöpfen, die längst abgehängt sind und sich selbst nicht mehr helfen können. Die Entschleunigungsinitiativen sind längst da. Es gilt nun, sie mit einander zu verknüpfen. Nur solche Synergien bieten die Chance, das von allen Seiten beschworene Ziel einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung auch wirklich anzusteuern.

Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 13. Was wir tun und lassen könnten

Anregungen für ein persönliches Entschleunigungsprogramm

13. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Jede Veränderung muss beim Einzelnen beginnen, darf aber nicht bei ihm stehen bleiben. Ratgeber für das individuelle Selbstmanagement empfehlen ihren Klienten gern ein Zwei-Listen-Konzept: Was ist mir wichtig? Und: Worauf verwende ich meine Zeit? Aus der Diskrepanz sollen die Klienten dann ihre Verhaltenskorrekturen ableiten. Wenn es jedoch auf die Verbindung zwischen einer individuellen und einer kollektiven Strategie ankommt, dann wäre ein Drei-Listen-Konzept nötig: Was ist mir wichtig? Worauf verwende ich meine Zeit?[1] Und wann versuche ich mit anderen zusammen, Bedingungen herbeizuführen, die die Diskrepanz zwischen der ersten und der zweiten Liste verringern helfen? Grundvoraussetzung für ein solches integriertes Entschleunigungsprogramm ist, dass wir in unserem Tagesgeschäft einmal innehalten, uns eine kleine Zeitinsel reservieren: einen Abend, einen Feiertag, ein Wochenende – für nichts anderes als dafür, uns unsere Erfahrungen im Umgang mit Zeit bewusst werden zu lassen.

Eine solche Reflexion als erster Schritt eines persönlichen Entschleunigungsprogramms richtet sich zunächst auf das Hier und Jetzt: In welchen Situationen wird mir die Zeit zu knapp, spüre ich also Zeitdruck? Aber auch: Wann wird mir die Zeit zu lang, spüre ich Langeweile? Und wann bin ich ganz bei mir und ganz in der Zeit, so dass die Zeit wie im Fluge vergeht? Eine solche Reflexion könnte sodann auf Vergangenheit und Zukunft ausgreifen: Welche Vorgeschichte und welche äußeren Bedingungen führen immer wieder zu jenen Situationen, in denen ich Zeit als etwas Lästiges oder gar Schmerzliches erfahre? Und: Welche Erwartungen habe ich an meinen zukünftigen Umgang mit Zeit und inwiefern müssten dafür in der Zukunft die Weichen anders gestellt und die Bedingungen anders gestaltet werden? Eine solche Bestandsaufnahme ruft vermutlich eine ungeordnete Vielfalt von Aspekten der persönlichen Zeitpraxis ins Bewusstsein: die Ernährung, den Umgang mit der Gesundheit, zeitliche Gewohnheiten im Familienleben und am Arbeitsplatz, die Pflege von Beziehungen zu Freunden und Bekannten usw.

Im Anschluss an eine solche Bestandsaufnahme wäre es in einem zweiten Schritt sinnvoll, einen persönlichen Schwerpunkt zu setzen. In welchen Situationen besteht in Bezug auf den Umgang mit Zeit für mich die größte Diskrepanz zwischen dem, was mir eigentlich guttut, und dem, was ich tatsächlich mache? In welchem Bereich also ist mein Veränderungsbedarf am größten? Welche Spielräume habe ich, in diesem Bereich mein bisheriges Verhalten zu verändern? Welche äußeren Bedingungen beherrschen diesen Bereich bisher und müssen in Zukunft neu gestaltet werden? Bei der Festlegung des persönlichen Schwerpunkts der Entschleunigung sollten also sowohl die persönlichen Bedürfnisse als auch die persönlichen Spielräume berücksichtigt werden. Vermutlich sind die Entschleunigunsgbedürfnisse bei der Mehrzahl der Menschen am Arbeitsplatz am größten, also dummerweise dort, wo sie nicht Herr ihrer Zeit sind.

Nach der Schwerpunktbildung sollten wir uns in einem dritten Schritt auf die Suche nach jenen Kräften begeben, die eine Veränderung herbeiführen können. Diese Kräfte, die sowohl in uns selbst wie in unserer Umwelt schlummern, müssen aufgeweckt, gestärkt und organisiert werden. Dies geschieht allein schon dadurch, dass wir uns bewusst machen, was wir selbst in der Vergangenheit bei ähnlichen Veränderungsvorsätzen bereits erreicht haben. Es gibt kaum jemanden, der nicht schon an sich selbst erfahren hat, dass Fantasie, Experimentierfreude und Beharrlichkeit ungeahnte Erfolgserlebnisse nach sich ziehen. Kräfte der Veränderung werden auch durch die Erfahrung mobilisiert, dass es anderen genausso geht wie einem selbst und dass es offenbar nur unterschiedliche Formen der Verarbeitung von Zeitmangel gibt. Je stärker bei der Schwerpunktbildung Bereiche festgelegt wurden, in denen eine veränderte Zeitpraxis an veränderte äußere Bedingungen gebunden ist, desto wichtiger wird es in diesem dritten Schritt Leidensgenossen zu finden. Vor allem am Arbeitsplatz wird es darum gehen, mit ihnen zusammen dafür zu sorgen, dass die zeitlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer Berücksichtigung finden: etwa bei der Gestaltung von Dienstplänen mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Familie, bei der Einrichtung telefonfreier Zeiten mit Rücksicht auf das Bedürfnis nach störungsfreien Arbeitsphasen, bei der Ermöglichung des Mittagsschlafs am Arbeitsplatz mit Rücksicht auf den Biorhythmus, bei der Bereitstellung von Stehpulten mit Rücksicht auf die Eigenzeiten der Wirbelsäule etc. Wir müssen uns zusammentun und die zeitlichen Nöte des Alltags einmal grundsätzlich zum Thema machen – das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Opfer des Hamsterrads einen gemeinsamen Gegner haben, den sie auch nur gemeinsam bezwingen können.

Es gibt also viel zu tun. Woher aber die Zeit und die Energie für all das nehmen? Wir könnten vieles von dem sein lassen, was wir bisher denken und tun. Wir können von einigen in unserem Alltag fest verankerten Gewohnheiten Abstand nehmen. Wir könnten probieren, wie es wäre, wenn wir den Feierabend einmal nicht vor dem Fernseher verbrächten, wenn wir am Wochenende einmal nicht von einem Event zum nächsten hetzten, wenn wir zum Zweck der Erholung einmal nicht mit dem Flugzeug den Kontinent wechselten. Wir könnten probieren, wie es wäre, wenn wir im Umgang mit unseren Arbeitskollegen, Partnern und Kindern eingetretene Bahnen einmal verließen, wenn wir unsere Kollegen einmal nicht unter Leistungs- und Konkurrenzdruck setzten, wenn wir Sex einmal nicht nach dem Stundenplan machten, wenn wir unsere Kinder einmal nicht zur Nachahmung der Erwachsenen erzögen. Und wir könnten ggf. einmal probieren, wie es wäre, wenn wir einen Teil der Lebenszeit, die wir bisher für Arbeit und Konsum verwenden, einfach Eigenzeit sein ließen. Kurz: Wir könnten die herrschenden Konventionen und Standards probehalber einmal sein lassen, was sie sind – ungeschriebene Gesetze, zu deren Einhaltung niemand verpflichtet ist, zu deren Einhaltung die meisten sich nur ohne Not verführen lassen. Dazu müssen wir freilich, wie bei allen Therapien, insbesondere von Suchterkrankungen, die Angst überwinden, zwischenzeitlich auch einmal die sichere Orientierung zu verlieren. Wenn uns dies gelingt, könnten wir unser Leben von überflüssigem Ballast befreien, es gewissermaßen vereinfachen. Lassen statt tun, das wäre eine reizvolle Alternative – und schauen, was geschieht.

Aus: „Die Kreativität der Langsamkeit“ – Essay

Leseprobe
aus: „Die Kreativität der Langsamkeit“

Das japanische Erziehungsministerium hat Computerprogramme für Kindergartenkinder entwickeln lassen. Sie eignen sich für Kinder ab dem 30. Lebensmonat, verspricht der Prospekt den Eltern. Frühförderung heißt also das Motto. Wer mit 30 Jahren zur Elite gehören soll, muss spätestens mit drei Jahren das Training beginnen. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Japan. In Deutschland hat ein dynamischer Unternehmer ein „Beton-Grabkammer-System“ auf den Markt gebracht. Es fördert den Verwesungsprozeß des Leichnams. Spätförderung ist hier die Devise. Mit diesem System, so der Anbieter, lässt sich die derzeitige „Ruhezeit“ von 15 bis 20 Jahren auf zehn Jahre verkürzen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur optimalen Flächennutzung. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Schnell einsteigen, schnell ausrangieren! Zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, das weitgehend vom Diktat der Uhr bestimmt ist. Dieses Diktat macht den meisten Menschen zu schaffen. Dass der Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny aus dem Jahr 1983 zu einem Kultbuch geworden ist, dürfte damit zu tun haben. Bei Umfragen klagen vier von fünf Bundesbürgern, alles verändere sich viel zu rasch, sie hätten es gern etwas gemächlicher. Wir sind einem umfassenden „Sach“zwang der Beschleunigung unterworfen. Mit ihr geht eine scheinbar ebenso unaufhaltsame Abkoppelung des Lebens von natürlichen und traditionellen Rhythmen einher. Nachtruhe, Wochenenden und Feiertage fallen nach und nach dem Beschleunigungszwang zum Opfer, Ernährung und Urlaubsgestaltung haben sich längst vom Wechsel der Jahreszeiten unabhängig gemacht. Beschleunigung und daraus folgende Entrhythmisierung – das gehört offenbar zu den zentralsten Kennzeichen jener Gesellschaften, die sich als „hochentwickelt“ bezeichnen. Dies alles mag faszinieren, gleichzeitig aber entstehen Zweifel. Wo bleibt eigentlich die gewonnene Zeit? Bis zu welcher Grenze können Mensch, Natur und Gesellschaft die künstlichen Rhythmen und Geschwindigkeiten verkraften? Wann sind die Kräfte erschöpft? Aus der Physik des Alltags müßten wir eigentlich wissen, daß Beschleunigungsphasen mit besonders hohem Energieaufwand erkauft werden und daß mit der Erhöhung der Geschwindigkeit eines Systems gleichzeitig dessen Steuerung schwieriger wird. Tragischerweise brauchen wir meist Krankheiten oder Katastrophen, um in der Hetzjagd innezuhalten und solche Fragen zu stellen.

Die Ökologie der Zeit

Welches Tempo und welcher Rhythmus täten uns gut? Diese Frage verlangt nach einer sehr grundsätzlichen Überlegung darüber, worauf unsere Existenz als Menschen eigentlich beruht. Um leben zu können, benötigen wir ständig Energie/Materie, die wir in Nahrung, Kleidung etc. umwandeln. Bei dieser Umwandlung greifen wir laufend auf Informationen über uns selbst sowie unsere Umwelt zurück. Als Nebenprodukte der Verarbeitung von Energie/Materie und Informationen entstehen Müll und neue Sachverhalte als Rohstoff für neue Informationen. Solche Prozesse erfordern bestimmte Zeiträume und folgen in der Regel bestimmten Rhythmen, sie haben also Eigenzeiten. Man denke z.B. an die Ernährung oder den Wechsel von Anstrengung und Erholung. Entscheidend ist: Diese Eigenzeiten sind Resultate der Evolution. Im Laufe unvorstellbar großer Zeiträume hat der Mensch zwar gelernt, sich von diesen Zeitprogrammen teilweise zu befreien. Aber diese Befreiung ist nur innerhalb bestimmter evolutionär definierter Grenzen möglich.

Heute sind wir im Begriff, diese Grenzen zu überschreiten. Angetrieben werden wir dabei von jenen sogenannten „Sach“zwängen, die der Kapitalismus der Welt seit rund 200 Jahren beschert. Seitdem gilt die Logik des Produzierens um der Produktion willen, und zwar von Geld. Dadurch werden alle Prozesse enorm beschleunigt und entrhythmisiert. Die Produktionslogik beseitigt nach und nach alle Hindernisse, die ihr im Wege stehen. Lernen, Arbeiten und Konsumieren, Verwalten und Konsensfinden – fast alle Tätigkeiten werden rigoros der Hetzjagd nach dem Geld ausgesetzt. Gegenwärtig zeigt sich der totalitäre Charakter der kapitalistischen Programmzeiten im neoliberalen „Verschlankungskonzept“ zur Verbesserung der Chancen im „Standortwettbewerb“: Je schlanker desto schneller, je schneller desto schlanker! Menschen und Tätigkeiten, die durch ihre Langsamkeit die Produktionsgeschwindigkeit zu bremsen drohen, gelten als Ballast. Entweder sie lassen sich beschleunigen, oder sie werden notfalls „entsorgt“.

Die Destruktivität der Schnelligkeit

Die Hochgeschwindigkeitsgesellschaft ist nicht nur moralisch bedenklich, sondern auch wenig zukunftsfähig. Eine Logik nämlich, die auf maximale Produktion zielt, vernachlässigt notwendigerweise die Reproduktion dessen, was in der Produktion verbraucht worden ist. Die Symptome zeigen sich auf allen Ebenen: Wir sehen uns nicht nur durch das Tempo der Veränderungen überfordert, sondern leiden auch darunter, daß unser Körper immer schneller mit Stoffen und unsere Psyche mit Reizen bombardiert werden, so daß die physische und psychische Immunabwehr sich darauf nicht mehr ausreichend einstellen kann. Allergien und Suchterkrankungen sind z.B. die Quittung für diesen Streß. Die Natur wird schneller verbraucht, als sie nachwächst. Gegenwärtig nutzen wir z.B. pro Tag mehr fossile Energie, als die Natur in 1000 Jahren gespeichert hat. Innenwelt- und Umweltverschmutzung gehen so Hand in Hand. Und auch die Gesellschaft wird mit mehr Konflikten belastet, als sie schlichten kann. Die weltwirtschaftlich Produktiven und deshalb Schnellen werden z.B. immer schneller, die weniger Produktiven und Langsameren fallen immer weiter zurück und haben immer weniger Grund dazu, sich an die herrschenden Spielregeln der Gesellschaft gebunden zu fühlen. Allgemeiner formuliert: Die Produktionslogik schafft auf allen Ebenen schneller neue Probleme, als bewältigt werden können. So wird Anpassung, also Lernen, systematisch verhindert. Der Mensch, die Natur und die Gesellschaft können vielfach die evolutionär gesetzten zeitlichen Grenzen nicht mehr einhalten. So tritt an die Stelle der behutsamen Befreiung der Prozesse aus den vorgegebenen Zeitmustern ihr rasanter Zusammenbruch.

Wollen wir nachhaltig leben, müssen wir unsere Wirtschaftsweise vom Ziel der Produktion auf das der Reproduktion umprogrammieren und die Eigenzeiten von Natur, Gesellschaft und Individuum zum Maßstab erheben. Dies erfordert die Entschleunigung und Neurhythmisierung zentraler Lebenstätigkeiten. Es kommt darauf an, daß die Menschen selbst das Tempo und den Rhythmus ihres Lebens im Rahmen der evolutionär entstandenen Grundlagen bestimmen können. Als Konsequenz ergäbe sich eine neue Form von Wohlstand, weil das Ausmaß der bisherigen Zerst&oauml;rungsprozesse gestoppt würde. Darüber hinaus könnte die Langsamkeit eine neue Kultur der Faulheit, der Muße, der klugen Lust begründen – als Basis für neue Formen von Kreativität.

Was tun?

Zunächst sollten wir uns bewusst machen, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist. Er hat sich zwar 1989 seines Systemrivalen entledigt, aber dieser Rivale hatte von Anfang an keine Chancen, er war keine wirklich lebensfähige und ethisch akzeptable historische Alternative. Nun also beherrscht der Kapitalismus die Welt ganz allein, die Probleme dieser Welt sind somit ab sofort hausgemacht. Statt das Ende der Geschichte zu verkünden, muss die Suche nach einer Form des Wirtschaftens und Lebens, die den Bedingungen der Natur und den Bedürfnissen und der Würde des Menschen besser gerecht wird als die herrschende, weitergehen. Schließlich sind die wirtschaftlichen „Sach“zwänge ja keine Naturzwänge, sondern vom Menschen gemachte, sie können also auch vom Menschen wieder korrigiert werden. Modelle für eine nachkapitalistische Wirtschaft sind seit Langem durchdacht und teils erprobt. Da wäre z.B. die Dualwirtschaft, die jedem selbst überlässt, wieviel und welche Bedürfnisse er über Geld und wieviel und welche er über Eigenarbeit mit Freunden, Nachbarn, im Tauschring etc. befriedigt. Da wäre ferner eine reformierte Marktwirtschaft, die statt der Interessen der Kapitaleigentümer bzw. Shareholders die Interessen der Arbeitnehmer und der Konsumenten ins Zentrum stellt. Und da wäre schließlich die zu Unrecht als Auslaufmodell diskreditierte öffentlichen Wirtschaft, die freilich in einem demokratischen Rechtsstaat auch demokratisch geplant und kontrolliert werden muss. Diese Modelle wären miteinander zu kombinieren und weiter zu erproben. In Bezug auf den Umgang mit Zeit haben diese Modelle einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Shareholder-Value-Ökonomie: Sie erlauben es den Menschen, Tempo und Rhythmus des Umgangs mit sich und der Natur selbst zu bestimmen – nach bestem Wissen und Gewissen. Insofern ermöglichen sie langfristig die Etablierung einer zeitbewussten Ökonomie.

Mittelfristig brauchen wir unter den gegebenen ökonomischen Zwängen wenigstens eine Politik, die uns noch Zeit gibt für die Suche nach einem begehbaren und verantwortbaren Weg in die Zukunft. Die zerstörerische Kraft der kapitalistischen Programmzeiten muss durch verbindliche gesellschaftliche Spielregeln gebändigt werden: also durch Zeitpolitik. Was heißt das konkret? Erstens: Umweltpolitik muss dafür sorgen, dass die Eigenzeiten der Natur zum Maßstab für die menschlichen Eingriffe in den Naturhaushalt erhoben werden. Zweitens: Wenn Arbeitsteilung und Güteraustausch durch eine zunehmende Diskrepanz zwischen Hochproduktiv-Schnellen und Niedrigproduktiv-Langsamen gefährdet werden, muss Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen so umbauen, daß sich die Schnellen mehr Zeit lassen, damit die Langsamen nachkommen können. Und drittens: Sozial- und Gesundheitspolitik muss es den Menschen ermöglichen, ihr Leben so weit wie möglich nach ihren eigenen Zeitvorstellungen und Temperamenten zu führen.

Jede Veränderung muss beim Einzelnen beginnen. Neben dem langfristigen Umbau der Ökonomie und der mittelfristigen Neuausrichtung der Politik ist so etwas wie individuelle Zeithygiene nötig. Was bringt es mir, von einem Event zum nächsten zu jagen, meinen Terminkalender bis zum Rand vollzustopfen, freiwillige Überstunden zu machen und Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung oder des Sabbatjahres nicht zu nutzen? Jeder Einzelne sollte sich – und damit kann er morgen beginnen – selbst fragen, ob ihm sein bisheriger Umgang mit Zeit wirklich gut tut. Ein rücksichtsvoller Umgang mit uns selbst könnte uns die wertvolle Erfahrung machen lassen, dass weniger manchmal mehr ist, dass es neben den allgemein üblichen auch andere, klügere Formen des Lustgewinns gibt, die allerdings erst entdeckt oder wiederentdeckt werden müssen. Damit aber solche Rücksichtnahme nicht ein Privileg für einige Wenige bleibt, müssen wir die gesellschaftlichen Spielregeln so weiterentwickeln, dass der Respekt vor Eigenzeiten nicht bestraft, sondern belohnt wird.