Aus: „Die Kreativität der Langsamkeit“ – Essay

Leseprobe
aus: „Die Kreativität der Langsamkeit“

Das japanische Erziehungsministerium hat Computerprogramme für Kindergartenkinder entwickeln lassen. Sie eignen sich für Kinder ab dem 30. Lebensmonat, verspricht der Prospekt den Eltern. Frühförderung heißt also das Motto. Wer mit 30 Jahren zur Elite gehören soll, muss spätestens mit drei Jahren das Training beginnen. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Japan. In Deutschland hat ein dynamischer Unternehmer ein „Beton-Grabkammer-System“ auf den Markt gebracht. Es fördert den Verwesungsprozeß des Leichnams. Spätförderung ist hier die Devise. Mit diesem System, so der Anbieter, lässt sich die derzeitige „Ruhezeit“ von 15 bis 20 Jahren auf zehn Jahre verkürzen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur optimalen Flächennutzung. Es geht schließlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Schnell einsteigen, schnell ausrangieren! Zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, das weitgehend vom Diktat der Uhr bestimmt ist. Dieses Diktat macht den meisten Menschen zu schaffen. Dass der Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny aus dem Jahr 1983 zu einem Kultbuch geworden ist, dürfte damit zu tun haben. Bei Umfragen klagen vier von fünf Bundesbürgern, alles verändere sich viel zu rasch, sie hätten es gern etwas gemächlicher. Wir sind einem umfassenden „Sach“zwang der Beschleunigung unterworfen. Mit ihr geht eine scheinbar ebenso unaufhaltsame Abkoppelung des Lebens von natürlichen und traditionellen Rhythmen einher. Nachtruhe, Wochenenden und Feiertage fallen nach und nach dem Beschleunigungszwang zum Opfer, Ernährung und Urlaubsgestaltung haben sich längst vom Wechsel der Jahreszeiten unabhängig gemacht. Beschleunigung und daraus folgende Entrhythmisierung – das gehört offenbar zu den zentralsten Kennzeichen jener Gesellschaften, die sich als „hochentwickelt“ bezeichnen. Dies alles mag faszinieren, gleichzeitig aber entstehen Zweifel. Wo bleibt eigentlich die gewonnene Zeit? Bis zu welcher Grenze können Mensch, Natur und Gesellschaft die künstlichen Rhythmen und Geschwindigkeiten verkraften? Wann sind die Kräfte erschöpft? Aus der Physik des Alltags müßten wir eigentlich wissen, daß Beschleunigungsphasen mit besonders hohem Energieaufwand erkauft werden und daß mit der Erhöhung der Geschwindigkeit eines Systems gleichzeitig dessen Steuerung schwieriger wird. Tragischerweise brauchen wir meist Krankheiten oder Katastrophen, um in der Hetzjagd innezuhalten und solche Fragen zu stellen.

Die Ökologie der Zeit

Welches Tempo und welcher Rhythmus täten uns gut? Diese Frage verlangt nach einer sehr grundsätzlichen Überlegung darüber, worauf unsere Existenz als Menschen eigentlich beruht. Um leben zu können, benötigen wir ständig Energie/Materie, die wir in Nahrung, Kleidung etc. umwandeln. Bei dieser Umwandlung greifen wir laufend auf Informationen über uns selbst sowie unsere Umwelt zurück. Als Nebenprodukte der Verarbeitung von Energie/Materie und Informationen entstehen Müll und neue Sachverhalte als Rohstoff für neue Informationen. Solche Prozesse erfordern bestimmte Zeiträume und folgen in der Regel bestimmten Rhythmen, sie haben also Eigenzeiten. Man denke z.B. an die Ernährung oder den Wechsel von Anstrengung und Erholung. Entscheidend ist: Diese Eigenzeiten sind Resultate der Evolution. Im Laufe unvorstellbar großer Zeiträume hat der Mensch zwar gelernt, sich von diesen Zeitprogrammen teilweise zu befreien. Aber diese Befreiung ist nur innerhalb bestimmter evolutionär definierter Grenzen möglich.

Heute sind wir im Begriff, diese Grenzen zu überschreiten. Angetrieben werden wir dabei von jenen sogenannten „Sach“zwängen, die der Kapitalismus der Welt seit rund 200 Jahren beschert. Seitdem gilt die Logik des Produzierens um der Produktion willen, und zwar von Geld. Dadurch werden alle Prozesse enorm beschleunigt und entrhythmisiert. Die Produktionslogik beseitigt nach und nach alle Hindernisse, die ihr im Wege stehen. Lernen, Arbeiten und Konsumieren, Verwalten und Konsensfinden – fast alle Tätigkeiten werden rigoros der Hetzjagd nach dem Geld ausgesetzt. Gegenwärtig zeigt sich der totalitäre Charakter der kapitalistischen Programmzeiten im neoliberalen „Verschlankungskonzept“ zur Verbesserung der Chancen im „Standortwettbewerb“: Je schlanker desto schneller, je schneller desto schlanker! Menschen und Tätigkeiten, die durch ihre Langsamkeit die Produktionsgeschwindigkeit zu bremsen drohen, gelten als Ballast. Entweder sie lassen sich beschleunigen, oder sie werden notfalls „entsorgt“.

Die Destruktivität der Schnelligkeit

Die Hochgeschwindigkeitsgesellschaft ist nicht nur moralisch bedenklich, sondern auch wenig zukunftsfähig. Eine Logik nämlich, die auf maximale Produktion zielt, vernachlässigt notwendigerweise die Reproduktion dessen, was in der Produktion verbraucht worden ist. Die Symptome zeigen sich auf allen Ebenen: Wir sehen uns nicht nur durch das Tempo der Veränderungen überfordert, sondern leiden auch darunter, daß unser Körper immer schneller mit Stoffen und unsere Psyche mit Reizen bombardiert werden, so daß die physische und psychische Immunabwehr sich darauf nicht mehr ausreichend einstellen kann. Allergien und Suchterkrankungen sind z.B. die Quittung für diesen Streß. Die Natur wird schneller verbraucht, als sie nachwächst. Gegenwärtig nutzen wir z.B. pro Tag mehr fossile Energie, als die Natur in 1000 Jahren gespeichert hat. Innenwelt- und Umweltverschmutzung gehen so Hand in Hand. Und auch die Gesellschaft wird mit mehr Konflikten belastet, als sie schlichten kann. Die weltwirtschaftlich Produktiven und deshalb Schnellen werden z.B. immer schneller, die weniger Produktiven und Langsameren fallen immer weiter zurück und haben immer weniger Grund dazu, sich an die herrschenden Spielregeln der Gesellschaft gebunden zu fühlen. Allgemeiner formuliert: Die Produktionslogik schafft auf allen Ebenen schneller neue Probleme, als bewältigt werden können. So wird Anpassung, also Lernen, systematisch verhindert. Der Mensch, die Natur und die Gesellschaft können vielfach die evolutionär gesetzten zeitlichen Grenzen nicht mehr einhalten. So tritt an die Stelle der behutsamen Befreiung der Prozesse aus den vorgegebenen Zeitmustern ihr rasanter Zusammenbruch.

Wollen wir nachhaltig leben, müssen wir unsere Wirtschaftsweise vom Ziel der Produktion auf das der Reproduktion umprogrammieren und die Eigenzeiten von Natur, Gesellschaft und Individuum zum Maßstab erheben. Dies erfordert die Entschleunigung und Neurhythmisierung zentraler Lebenstätigkeiten. Es kommt darauf an, daß die Menschen selbst das Tempo und den Rhythmus ihres Lebens im Rahmen der evolutionär entstandenen Grundlagen bestimmen können. Als Konsequenz ergäbe sich eine neue Form von Wohlstand, weil das Ausmaß der bisherigen Zerst&oauml;rungsprozesse gestoppt würde. Darüber hinaus könnte die Langsamkeit eine neue Kultur der Faulheit, der Muße, der klugen Lust begründen – als Basis für neue Formen von Kreativität.

Was tun?

Zunächst sollten wir uns bewusst machen, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist. Er hat sich zwar 1989 seines Systemrivalen entledigt, aber dieser Rivale hatte von Anfang an keine Chancen, er war keine wirklich lebensfähige und ethisch akzeptable historische Alternative. Nun also beherrscht der Kapitalismus die Welt ganz allein, die Probleme dieser Welt sind somit ab sofort hausgemacht. Statt das Ende der Geschichte zu verkünden, muss die Suche nach einer Form des Wirtschaftens und Lebens, die den Bedingungen der Natur und den Bedürfnissen und der Würde des Menschen besser gerecht wird als die herrschende, weitergehen. Schließlich sind die wirtschaftlichen „Sach“zwänge ja keine Naturzwänge, sondern vom Menschen gemachte, sie können also auch vom Menschen wieder korrigiert werden. Modelle für eine nachkapitalistische Wirtschaft sind seit Langem durchdacht und teils erprobt. Da wäre z.B. die Dualwirtschaft, die jedem selbst überlässt, wieviel und welche Bedürfnisse er über Geld und wieviel und welche er über Eigenarbeit mit Freunden, Nachbarn, im Tauschring etc. befriedigt. Da wäre ferner eine reformierte Marktwirtschaft, die statt der Interessen der Kapitaleigentümer bzw. Shareholders die Interessen der Arbeitnehmer und der Konsumenten ins Zentrum stellt. Und da wäre schließlich die zu Unrecht als Auslaufmodell diskreditierte öffentlichen Wirtschaft, die freilich in einem demokratischen Rechtsstaat auch demokratisch geplant und kontrolliert werden muss. Diese Modelle wären miteinander zu kombinieren und weiter zu erproben. In Bezug auf den Umgang mit Zeit haben diese Modelle einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Shareholder-Value-Ökonomie: Sie erlauben es den Menschen, Tempo und Rhythmus des Umgangs mit sich und der Natur selbst zu bestimmen – nach bestem Wissen und Gewissen. Insofern ermöglichen sie langfristig die Etablierung einer zeitbewussten Ökonomie.

Mittelfristig brauchen wir unter den gegebenen ökonomischen Zwängen wenigstens eine Politik, die uns noch Zeit gibt für die Suche nach einem begehbaren und verantwortbaren Weg in die Zukunft. Die zerstörerische Kraft der kapitalistischen Programmzeiten muss durch verbindliche gesellschaftliche Spielregeln gebändigt werden: also durch Zeitpolitik. Was heißt das konkret? Erstens: Umweltpolitik muss dafür sorgen, dass die Eigenzeiten der Natur zum Maßstab für die menschlichen Eingriffe in den Naturhaushalt erhoben werden. Zweitens: Wenn Arbeitsteilung und Güteraustausch durch eine zunehmende Diskrepanz zwischen Hochproduktiv-Schnellen und Niedrigproduktiv-Langsamen gefährdet werden, muss Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen so umbauen, daß sich die Schnellen mehr Zeit lassen, damit die Langsamen nachkommen können. Und drittens: Sozial- und Gesundheitspolitik muss es den Menschen ermöglichen, ihr Leben so weit wie möglich nach ihren eigenen Zeitvorstellungen und Temperamenten zu führen.

Jede Veränderung muss beim Einzelnen beginnen. Neben dem langfristigen Umbau der Ökonomie und der mittelfristigen Neuausrichtung der Politik ist so etwas wie individuelle Zeithygiene nötig. Was bringt es mir, von einem Event zum nächsten zu jagen, meinen Terminkalender bis zum Rand vollzustopfen, freiwillige Überstunden zu machen und Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung oder des Sabbatjahres nicht zu nutzen? Jeder Einzelne sollte sich – und damit kann er morgen beginnen – selbst fragen, ob ihm sein bisheriger Umgang mit Zeit wirklich gut tut. Ein rücksichtsvoller Umgang mit uns selbst könnte uns die wertvolle Erfahrung machen lassen, dass weniger manchmal mehr ist, dass es neben den allgemein üblichen auch andere, klügere Formen des Lustgewinns gibt, die allerdings erst entdeckt oder wiederentdeckt werden müssen. Damit aber solche Rücksichtnahme nicht ein Privileg für einige Wenige bleibt, müssen wir die gesellschaftlichen Spielregeln so weiterentwickeln, dass der Respekt vor Eigenzeiten nicht bestraft, sondern belohnt wird.