Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 10. Entschleunigung

Das Hamsterrad stoppen: Zeithygiene und Zeitpolitik

10. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Es gibt jede Menge Ratgeber, die uns vor der Erschöpfung im Hamsterrad bewahren wollen. „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“ und „Gute Arbeit braucht ihre Zeit“, so heißen die Botschaften des modernen Zeitmanagements. Für eine wirkliche Befreiung vom Hamsterrad ist es jedoch wichtig, dass mit Hilfe solcher Ratgeber nicht nur Beschleunigungsfallen vermieden werden, sondern dass die so gewonnene Zeit auch wirklich frei bleibt und nicht gleich wieder „investiert“ und „verwertet“ wird.

Um solche Zeit, die von den Zwängen des Arbeitens und Konsumierens frei bleibt, geht es zum Beispiel den Kirchen, die den Wert des Feierabends, der Sonn- und der Feiertage anmahnen und verteidigen. Und auch das Plädoyer für Teilzeitarbeit und Sabbatjahre zielt auf die zumindest teilweise Befreiung aus dem Hamsterrad. Man kann in der Tat Nischen finden, Oasen der Ruhe, „Kurorte der Zeit“.[1] In solchen Kurorten der Zeit wird Zeit nicht für irgendeinen fremden Zweck genutzt, sondern sie vergeht einfach nur. Das können jene kleinen Fluchten sein, in denen ich mich dem Zwang, am Arbeitsplatz ständig Leistung erbringen zu müssen, entziehe – indem ich aus dem Fenster schaue und vor mich hin döse, indem ich ausgiebig auf die Toilette gehe, indem ich in einer ausgedehnten Kaffepause meinen Kommunikationsbedürfnissen nachgehe, indem ich meinen Mittagsschlaf im Büro abhalte oder die sogenannte Stille Stunde genieße. Wohlgemerkt: Nicht als Mittel der Leistungssteigerung, sondern als Mittel zur Schaffung einer leistungsfreien Zone, die allein der Optimierung des Wohlbefinden dient.

Wie wäre es, auch die größeren Zeitinseln einmal anders als gewohnt zu nutzen, auf das evolutionäre Prinzip von Variation und Selektion zu setzen und zu experimentieren: am Feierabend nicht als erstes den Fernseher anzuknipsen, am Wochenende und im Urlaub einmal das Auto in der Garage zu lassen, das Konsumverhalten zu überprüfen usw. Probieren Sie einmal die Einführung eines „Kauf-nix-Tages“ oder das „Safer Shopping“ mit Hilfe eines „Kreditkarten-Kondoms“![2]

Oder nehmen wir zum Beispiel die Gestaltung des Urlaubs: Wir könnten uns mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß auf den Weg machen, könnten bei solchen Experimenten mit langsameren Formen der Fortbewegung entdecken, dass mit der Reduktion der Reisegeschwindigkeit eine Intensivierung der Sinneseindrücke und damit der Sinnlichkeit des Reisens einhergeht, dass man beim Radeln und erst recht beim Wandern unendlich mehr sieht, hört, riecht und schmeckt als in Auto, Zug oder Flugzeug. Mit sanfteren Bewegungstechniken ergeben sich in der Regel auch ganz neue Formen der Begegnung mit Menschen und Tieren am Wegesrand. Drei Wochen mit dem Fahrrad in Südfrankreich unterwegs – in der Erinnerung kann das schnell als südfranzösischer Sommer verbucht werden. Ein kostensparender Weg zur Verlängerung des Urlaubs!

Aber bei all diesen kleineren und größeren Fluchtwegen und Notausstiegen aus dem Hamsterrad bleiben offene Fragen: Wie können wir uns gegen die Verführungen der Werbung und die Erwartungen unserer Mitmenschen eigentlich zur Wehr setzen? In welchen Lebensbereichen ist solcher Eigensinn überhaupt möglich? Wer kann sich diese Fluchtwege und Notausgänge überhaupt leisten? Gegen welche Erschöpfungsgefahren helfen solche Notausgänge überhaupt? Und was würde passieren, wenn viele gleichzeitig und unkoordiniert auf einen viel zu engen Ausgang hinstürmen? Der individuelle Wege aus dem Hamsterrad führt allzu oft in eine Sackgasse. Wer als Einzelner aus dem Hamsterrad auszusteigen versucht, muss vielleicht sogar über kurz oder lang umso mehr strampeln, er wird schnell gegenüber Mitbewerbern bzw. Konkurrenten zurückfallen und schlimmstenfalls das Rennen quittieren müssen.

Deshalb muss zur Zeithygiene etwas Zweites dazukommen – die Zeitpolitik. Unter Zeitpolitik versteht man grundsätzlich all jene politischen Bemühungen, die dem Schutz von evolutionär entstandenen Eigenzeiten dienen und zwar dort, wo sie von ökonomisch erzwungenen Programmzeiten bedroht sind. Politisch sind Bemühungen dann, wenn sie nicht nur individuell ansetzen, sondern von Anfang an Einfluss auf die verbindliche Festlegung und Durchsetzung jener Spielregeln zielen, die in einem Gemeinwesen gelten und für die der Staat zuständig ist. Wie in anderen Politikbereichen so stehen dem Staat auch bei der Zeitpolitik grundsätzlich drei Arten von Maßnahmen zur Verfügung: Er hat erstens die Möglichkeit, Verhaltensweisen seiner Bürger durch positive Anreize, vor allem finanzielle Subventionen, zu belohnen, andere Verhaltensweisen durch negative Anreize, also Steuern und Abgaben, zu bestrafen. Er hat zweitens die Möglichkeit, seinen Bürgern bestimmte Verhaltensweisen zu gebieten oder zu verbieten. Und in vielen Fällen stellt der Staat drittens zusätzlich noch Mittel bereit, die zur Nutzung des gebotenen Verhaltens bzw. zur Vermeidung des verbotenen Verhaltens hilfreich sind.

Inhaltliches Ziel von Zeitpolitik müsste der Schutz von Eigenzeiten sein, und zwar auf allen drei Ebenen – beim Umgang mit der natürlichen Umwelt, mit der kulturellen und sozialen Mitwelt und mit uns selbst. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, sich, andere und die Natur zu hetzen. Der Einstieg ist längst gemacht. So wie Ökosteuern die Regenerationsfähigkeit der Natur schützen, so müsste eine mutige Familien-, Sozial- und Gesellschaftspolitik dafür sorgen, dass auch für die Erhaltung von Familien, für die Sorge für Kinder, Jugendliche und Alte und für die Pflege des gesamten Gemeinwesens genügend Mittel und Zeit zur Verfügung gestellt werden. Dass Eltern in aller Ruhe ihre Kinder großziehen können, dieses Ziel müsste Vorrang vor vielen anderen Zielen in unserem Gemeinwesen haben. Und Zeitpolitik müsste auch die Eigenzeiten von Körper uns Psyche dort unter Schutz stellen, wo sie in Schulen und an Arbeitsplätzen vergewaltigt zu werden drohen. Eine so reiche Gesellschaft wie die unsere könnte und sollte sich für die wirklich wichtigen Dinge im Leben genug Zeit lassen können.

[1]: Pleterski/Habinger 1999, a.a.O., S. 7. ↑

[2]: De Graaf John de / Wann David / Naylor Thomas (2002), Affluenza. Zeitkrankheit Konsum, München, S. 279-357. ↑