Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 12. Slow Food

Der Anfang der Entschleunigung ist längst gemacht

12. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:

Italien, beliebtes europäisches Urlaubsland und eine der Wiegen der europäischen Kultur, gilt auch als ein Land der Sinnlichkeit und der Kunst des Genießens, nicht zuletzt des kulinarischen Genusses. Ausgerechnet im Herzen Italiens, in Rom, am Fuß der Spanischen Treppe, wollte McDonalds 1986 sein erstes italienisches Fast-Food-Restaurant eröffnen. Ein Affront für alle Freunde der italienischen Esskultur, den sie nicht widerstandslos hinnehmen wollten. Eine Gruppe von Journalisten aus dem traditionsbewussten Piemont, denen Essens- und Ernährungsthemen und die Bewahrung der italienischen Esskultur besonders am Herzen lag, wollte dem amerikanischen Schnellabfütterungskonzern eine unliebsame Überraschung bereiten. Am Tag der geplanten McDonals-Eröffnung veranstalteten sie am Ort der geplanten US-Frittierküche ein Sit-in mit besonderer Note: Es wurde nicht nur der Zugang zur McDonalds-Filiale blockiert, sondern man bot den hungrigen Italienern eine Alternative. Die Veranstalter der Protestaktion hatten alles mitgebracht, was für ein kulinarisches Fest nach italienischer Tradition erforderlich ist: lauter Produkte aus dem Umland von Rom. Man begann unter freiem Himmel zu kochen, ein köstliches Essen wurde bereitet, die besten Weine aus der Region wurden kredenzt – und bei all dem, und vor allem beim anschließenden Festmal, ließ man sich ganz viel Zeit.

An diesem Tag schlug in Rom die Geburtsstunde von „Slow Food“, der „Internationalen Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss“. Zwar gab es schon sehr viel früher Bewegungen, die u.a. aus dem Leiden am Tempo des Lebens geboren wurden. Die Wandervogelbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel wollte den Menschen die Natur näher bringen, sie die Gemeinschaft mit Anderen erfahren lassen und ihnen helfen, zu sich selbst zu finden. Auch die in allen Weltkulturen existierenden religiös und mystisch inspirierten Versuche, dem mit dem Lebenstempo zunehmenden Orientierungsverlust zu begegnen, sind im Kern Entschleunigungsprogramme. Meditation und rituelle Übungen sollen die Zeitpraxis des Menschen an die Zeitmaße der Schöpfung und des Schöpfers rückbinden. Aber Slow Food ist meines Wissens der erste organisierte Widerstand gegen die Beschleunigung, dem es schon vom Namen her um ein neues Verhältnis zur Zeit geht.

Dieser Bewegung gegen das schnelle Schlingen zum Zwecke der schnellen Geldvermehrung haben sich bis heute weltweit mehr als 70.000 Mitglieder in 42 Ländern unter dem Symbol der Schnecke zusammengeschlossen. Der Homo sapiens muss sich, so das „Slow-Food-Manifest“, von der Beschleunigung, die er selbst geschaffen hat und die ihn nun zu vernichten droht, befreien. Und weiter: „Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche, gegen die universelle Bedrohung durch das ´Fast Life´ zu verteidigen. Es ist kein Zufall, dass der Widerstand gegen das historisch beispiellose Ausmaß der Beschleunigung in der Moderne beim Essen beginnt. Den Widerstandskämpfern geht es dabei nicht nur um das Zeitlassen beim Essen und Kochen, sondern auch um die Zeitmaße beim Transport und bei der Herstellung unserer Lebensmittel. Hinter einer solchen Widerstandsbewegung gegen die Beschleunigung stehen nicht nur abermillionen Magengeschwüre, sondern auch die Einsicht: Nur wenn wir uns mit anderen zusammen tun, haben wir eine Chance, Sand ins Getriebe des rasenden Rades zu streuen. Je mehr Menschen, je mehr Sandkörner, um so besser.

Neben Slow Food gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Widerständen gegen das schnelle und pausenlose Leben. Leider sind sie bisher kaum bekannt: Zum Beispiel der Verein zur Verzögerung der Zeit, der jedes Vereinsmitglied verpflichtet, am Ort seiner Tätigkeit und überall dort zum Innehalten und Nachdenken aufzufordern, wo blinder Aktionismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produziert. Oder es gibt auch die gemeinsamen Bemühungen von Kirchen und Gewerkschaften, Sonn- und Feiertage zu retten und die Familienzeiten für Kommunikation, Erziehung, Trauer etc. vor dem Zugriff der Arbeitszeiten zu schützen. Oder die globalisierungskritische Bewegung Attac, die durch eine Devisentransfersteuer und andere Eingriffe in eine immer schnellere und risikoreichere globale Weltwirtschaft die Finanzströme entschleunigen möchte, um Risiken zu mindern und Mittel aus den hochdynamischen Zentren der Weltwirtschaft für jene Menschen abzuschöpfen, die längst abgehängt sind und sich selbst nicht mehr helfen können. Die Entschleunigungsinitiativen sind längst da. Es gilt nun, sie mit einander zu verknüpfen. Nur solche Synergien bieten die Chance, das von allen Seiten beschworene Ziel einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung auch wirklich anzusteuern.