Aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“. 8. Was treibt uns eigentlich so?
Die Zeithierarchie der Märkte – oder: Das Geld ist immer schneller
8. Leseprobe
aus: „Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus“:
Der Wirtschaftsliberalismus verspricht seit über 200 Jahren das Paradies auf Erden: Wenn wir Angebot und Nachfrage frei schalten und walten lassen, dann bewirkt die „unsichtbare Hand des Marktes“, dass die Wünsche der Menschen bestmöglich zufrieden gestellt werden. Dass sich das Paradies bisher nicht zeigt, liegt nicht so sehr am ständigen Dazwischenfunken des Staates, sondern an den Konstruktionsfehlern der Marktlogik selbst. Heute wird immer klarer: Die Geld- und Kapitalmärkte kommandieren alle anderen Märkte. Sie geben den Takt der Weltwirtschaft vor.
Dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ einer ganz bestimmten Sorte von Nachfragern, nämlich den Nachfragern nach Dividenden und Zinsen, derart die Regie überlässt, wollen und können die Apologeten des Marktes nicht zur Kenntnis nehmen. Zum einen, weil es ihr gesamtes Denkgebäude durcheinander brächte. Zum andern, weil in diesem Denkgebäude der Faktor Zeit der Abstraktion zum Opfer gefallen ist. Dort heißt es nämlich, Preise würden sich unendlich schnell den Mengen anpassen. Nur so kommen jene eleganten Kurven und Gleichgewichtspunkte zustande, die unsere Wirtschaftslehrbücher zieren. Diese Zeitblindheit des herrschenden Marktmodells macht es blind für die Wirklichkeit der Märkte. Das zeigt ein Blick auf die Märkte selbst. Unterscheidet man Märkte zunächst nur danach, was auf ihnen gehandelt wird, so gibt es, grob gesehen, vier Arten von Märkten: Erstens Märkte für Ressourcen, die von der Natur gratis bereitgestellt sind, vom Menschen allerdings erst erschlossen werden müssen. Zweitens Märkte für Arbeitskräfte. Drittens Märkte für Produkte. Und viertens Märkte für Geld, das für den Kauf von Ressourcen, Arbeitskräften und Produkten mit dem Zwecke der Geldvermehrung dient und deshalb gemeinhin Kapital genannt wird.
Der Witz bei dieser Unterscheidung, besteht nun darin, dass von den Ressourcen- über die Arbeits- und Güter- bis hin zu den Geld- bzw. Kapitalmärkten in Hinblick auf die von der herrschenden ökonomischen Theorie ausgeblendete Zeitdimension sich etwas Entscheidendes verändert: Die Zeit, die die Anbieter von Waren benötigen, um im Falle einer Veränderung der Nachfrage zu reagieren, nimmt drastisch ab.
Zum einen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit der Märkte von der räumlichen Mobilität der Waren ab. Ressourcenmärkte sind in dieser Hinsicht die langsamsten, weil viele Ressourcen an ihrem Ort eingewurzelt sind und auf Veränderungen der Nachfrage hin nicht beweglich gemacht werden können. Man denke zum Beispiel an Bodenschätze im Erdinneren oder an klimaabhängige Pflanzen. Arbeitsmärkte sind schon etwas schneller, weil Menschen auf Nachfrageveränderungen hin durchaus ihren angestammten Ort verlassen, wobei sie freilich durch ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Familie, ihre Ausbildung etc. in ihrer Flexibilität begrenzt sind. Gütermärkte sind noch wesentlich schneller, weil die meisten Güter mit Hilfe der modernen Transporttechnik in realativ kurzer Zeit von A nach B transportiert werden können und es in der Regel ein Leichtes ist, Werbung und Vertrieb auf den jeweiligen Ort einzustimmen. Kapitalmärkte aber sind ohne jeden Zweifel die schnellsten: Es dauert bekanntlich nur Sekunden, um gigantische Summen rund um den Globus zu dirigieren. Bereits Mitte der 90er Jahre schätzte man, dass pro Tag zwei Billionen Dollar auf den weltweiten Kapitalmärkten umgesetzt wurden – davon übrigens nur ein verschwindender Anteil zum Zwecke der Abwicklung des Außenhandels.[1] Der „Rest“ zum Spekulieren.
Die unterschiedlichen Reaktionszeiten hängen zum zweiten davon ab, wie schnell an einem gegebenen Ort die nachgefragten Waren vermehrt werden können. Ressourcen sind teils nicht, teils nur sehr langsam vermehrbar. Selbst regenerierbare Ressourcen wie Pflanzen und Tiere reagieren oft nur sehr begrenzt und träge, weil die Natur meist nicht so schnell ist, wie die Nachfrager dies wünschen. Arbeitskräfte sind oft schon etwas schneller. Bei ihnen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit vor allem vom Erwerb ihrer Qualifikationen ab. Güter können in der Regel ziemlich schnell nachproduziert werden, wenn die technischen Voraussetzungen bereits vorliegen. Geld bzw. Kapital aber kann in Sekunden vermehrt werden, allein durch einen Willensentschluss – bei Staaten als Ausgabe neuer Geldscheine, bei Banken als Ausgabe von Krediten, bei Privaten als Kauf- bzw. Zahlungsversprechen.
Opfer dieser Zeit-Hierarchie der Märkte sind alle Langsamen und Eingewurzelten. Erstens die Arbeitnehmer mit ihren Familien, Nachbarn, Freunden etc. Zweitens die mittelständischen Unternehmen mit ihrer lokalen Verbundenheit und ihren vielfältigen Verpflichtungen für die Kommunen. Die Situation des Mittelstands ist durch seine besonders prekäre Lage innerhalb der Zeit-Hierarchie der Märkte gekennzeichnet: Eingezwängt zwischen dem hoch-dynamischen und anonymen Geldmarkt einerseits und dem wenig-dynamischen Arbeitsmarkt mit den konkreten Beziehungen zu Menschen andererseits, muss dem Mittelstand im globalen ökonomischen Hamsterrad als erstem die Luft ausgehen. Und Opfer sind schließlich auch die Kommunen, die Lernorte der Demokratie, die zur Zeit alles verscherbeln, was nicht niet- und nagelfest ist, um nicht zahlungsunfähig zu werden.
[1]: Altvater Elmar (1995), Wettlauf ohne Sieger. Politische Gestaltung im Zeitalter der Geo-Ökonomie, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK, Heft 2, S. 192-202, hier S. 193 f., und Altvater Elmar / Mahnkopf Birgit (1999/2000), Entschleunigung der Finanzströme durch die Tobin-Steuer, in: WIDERSPRUCH 38, S. 43-46. ↑