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Der Abstieg der Nachhaltigkeit zur Marketingfloskel

Fritz Reheis über den zur Mode gewordenen Begriff der Nachhaltigkeit. Weshalb man den Begriff anders denken sollte. Und was das neue Verständnis mit dem Kapitalismus zu tun hat.

In seinem Buch Erhalten und erneuern [1] widmet sich der Publizist und Hochschullehrer Fritz Reheis [2] dem medial ideologisch geprägten und ursprünglich vor allem von den Grünen gekaperten Begriff, zeigt seine realen Dimensionen auf und liefert dessen systematische Darstellung. Ein Gespräch mit dem Autor.


Herr Reheis, Ihr Buch dreht sich um "Nachhaltigkeit". Ich muss zugeben, ich muss bei diesem Begriff Gefühle konkreten, oktoberfestesken Unwohlseins unterdrücken und Sie selbst geben in Ihrem Buch ja ein Beispiel für das Schindluder, das gewöhnlich damit getrieben wird: Beim Erwerb eines Chalets in dem Öko-Luxus-Resort [3] bei Kitzbühel, bei dem natürliche Materialien verwendet wurden, Plastik vermieden und mit Erdwärme geheizt sowie regionale Kost in den zugehörigen Restaurants angeboten wird, gibt es als Gipfel der Nachhaltigkeit einen veganen Elektro-Porsche mit einem Boden aus recycelten Fischernetzen gratis dazu.

Ausgerechnet die Spitze der Wohlhabenden, deren Öko-Bilanz verheerend ist, können sich also mit der "Nachhaltigkeit" ein gutes Gewissen erkaufen. Dreht es Ihnen hier nicht auch den Magen um?

Fritz Reheis: Ja, der Nachhaltigkeitsbegriff ist längst zur Vertrauenswährung des Marketings verkommen. Fast alles wird heute als "nachhaltig" verkauft. Die Taxonomie für Finanzanlagen der Europäischen Kommission zeichnet ja "bestimmte Atomkraft- und Erdgasaktivitäten als umweltverträglich" aus, was das EU-Parlament im Sommer letzten Jahres ausdrücklich abgesegnet hat. Und die Rüstungslobby spricht bereits ernsthaft vom "grünen" Panzer, weil er ja angeblich Frieden stifte.

"Durch kurzfristige Profitinteressen werden langfristig Arbeitsplätze nicht gesichert"

Wie kommt die soziale Dimension hier mit rein?
Fritz Reheis: Folgt man den Marketing-Sprüchen, ist auch die Sicherung von Arbeitsplätzen ein Gebot der Nachhaltigkeit. Wer jetzt auf Rüstungsaktien setzt, deren Kurse seit einem Jahr förmlich explodieren, wird so gleich doppelt vor möglichen Gewissenskonflikten bewahrt: Er leistet nicht nur einen Beitrag für den Frieden, er sichert zudem Arbeitsplätze.
Dass in Wahrheit durch kurzfristige Profitinteressen langfristig Arbeitsplätze nicht gesichert, sondern gefährdet und vernichtet werden, hat die deutsche Automobilindustrie mit ihrer jahrzehntelangen Ausrichtung auf eine ökologisch verheerende Art der Mobilität eindrucksvoll vorführt.
Im Übrigen: Wem es wirklich um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit geht, der darf sich nicht nur damit zufriedengeben, dass ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Er muss auch nach der Qualität der Arbeit, den Löhnen und der sozialen Absicherung fragen, und zwar entlang der gesamten Lieferkette, vom Globalen Süden (Rohstoffbergbau) bis in den Globalen Norden der Welt (Produktion, Handel, Entsorgung).
Welches Konzept von Nachhaltigkeit verfolgen Sie hingegen mit Ihrem Buch?
Fritz Reheis: Im Gegensatz zur rein instrumentell-ideologischen Rede von "Nachhaltigkeit" nehme ich den Begriff der Nachhaltigkeit ernst. Er verweist ja auf die Zeitdimension. Denn wer erklären will, was "nachhaltig" bedeutet, ist gezwungen, auf Zeithorizonte, Kreisläufe und weitere Modalitäten der Zeit Bezug zu nehmen.
Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass wir Zeit nicht sehen, hören oder schmecken können, weil wir für die Zeit, im Gegensatz zum Raum, kein Sinnesorgan haben. Es sind immer nur Veränderungen von Objekten (ihrer Größe, ihrer Form, ihrer Lage im Raum), aus denen wir hinterher schließen, dass Zeit vergangen sein muss. Genau genommen geht es also bei der Nachhaltigkeit um die Muster von Veränderungen im Zeitablauf.

"Wo lineare oder gar exponentielle Prozesse überhandnehmen, verliert der Mensch die Kontrolle"

Sie selbst bringen Ihr Konzept von Nachhaltigkeit mit Begriffen wie "Wiederholbarkeit" und "Zyklizität" in Zusammenhang. Können Sie das erläutern?
Fritz Reheis. Bild [4]: Wolf-Dietrich Weissbach / CC-BY-SA-3.0 [5]
Fritz Reheis: Das Urbeispiel für Nachhaltigkeit ist bekanntlich die Forstwirtschaft (Carl von Carlowitz): Man darf nicht mehr Bäume fällen, als wieder nachwachsen, wenn der Wald erhalten werden soll. Ähnlich bei der ökologischen Landwirtschaft: Man darf dem Boden nur so viel Kraft entziehen, dass er sich immer wieder erholen kann. Nur so bleibt er fruchtbar.
Deshalb der Fruchtwechsel und die Ruhephasen. Und auch in der industriellen Wirtschaft gibt es längst das Leitbild der Kreislaufwirtschaft. Kurz: Soll der menschliche Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen durchhaltbar, dauerhaft, eben nachhaltig sein, muss er wiederholbar sein. Und das ist er nur, wenn er sich mit den Zyklen der Natur synchronisiert.
Die Natur, die älter ist als der Mensch, gibt den zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Kultur bewegen muss. Oder, wie die indische Physikerin, Philosophin und Aktivistin Vandana Shiva sagt: Die menschliche Wirtschaft ist nichts anderes als die Fortsetzung der "Wirtschaft der Natur".
Zwar verändert der Mensch die Naturzyklen in bestimmten Grenzen, betreibt also Innovation, indem er an bestimmten Punkten lineare Fortschrittsprozesse in Gang setzt, etwa Urwälder rodet, Pflanzen und Tiere züchtet und, um Transporte zu beschleunigen, die Landschaft mit linearer Infrastruktur (Straßen, Schienen) durchschneidet. Aber die Zyklen der Natur bleiben stets die stabile Basis der Kultur, wenn das Zusammenspiel von Natur und Kultur nachhaltig sein soll.
Anders gesagt: Nachhaltigkeit ist "Wiederkehr des Ähnlichen" (Ludwig Klages). Die fortschrittssüchtige Moderne hat diese "zeitökologische" Grunderkenntnis immer mehr verdrängt. Wo lineare oder gar exponentielle Prozesse überhandnehmen und sich von den zugrundeliegenden Zyklen lösen, verliert der Mensch über kurz oder lang die Kontrolle. Klimakrise und Pandemien sind die Quittung dafür.

"Abwertung der Zukunft gegenüber der Gegenwart"

Welche Rolle spielen dabei die Faktoren Zeit und Verwertung?
Fritz Reheis: Die Moderne folgt seit 200 Jahren der Formel "Zeit ist Geld". Diese Formel ist im wahrsten Sinn des Wortes rücksichtslos gegenüber den Eigenzeiten von Natur, Gesellschaft und Mensch. Sie ignoriert das existenzielle Erfordernis der Synchronisation, indem sie alles, was da kreucht und fleucht, zum Objekt der Verwertung macht.
Dabei werden systematisch jene Geldbesitzer belohnt, die am schnellsten aus einem Euro, Dollar etc. zwei machen. Die Langsameren werden von den Schnelleren immer wieder abgestraft. Das besorgen bekanntlich längst die Algorithmen der digitalisierten Finanzindustrie. Wo strenge Auflagen für Nachhaltigkeit die Zukunft konsequent vor dem Zugriff der Gegenwart schützen, machen die Finanzströme einen weiten Bogen.
Ideologisch wird das dann als bilanztechnischer Vorgang der Diskontierung bezeichnet: als Abwertung der Zukunft gegenüber der Gegenwart (genauso wie die räumliche Ferne gegenüber der Nähe abgewertet wird). Auf Zeit bezogen kann man sagen: Die kapitalistische Ökonomie zielt auf die systematische und schnellstmögliche Verwertung jeglicher Formen von Zeit, der Lebenszeiten von Menschen, Tieren und Pflanzen.
Dieser Verwertungswettlauf macht auch vor den geoökologischen Kreisläufen nicht halt, die die Grundlage allen Lebens bilden. Die Erderhitzung mit den bekannten Extremwetterereignissen, kurz Klimakrise genannt, ist letztlich eine systematische Folge der vom Verwertungszwang des Geldes getriebenen Beschleunigung des Kohlenstoffkreislaufs.

"Bäume wachsen nicht in den Himmel, das Kapital schon"

Wie sehr ist also die kapitalistische Form des Wirtschaftens für Ihr Konzept von Nachhaltigkeit ein Hindernis?
Fritz Reheis: Wenn zutrifft, was ich soeben gesagt habe, ist der Kapitalismus in seiner Reinform das exakte Gegenteil von Nachhaltigkeit. Er zwingt der "Symphonie des Lebens" (Julius T. Fraser) den Lärm des Geldes auf. Geld als Kapital hat eine völlig andere Bewegungsdynamik als jene Welt, die nicht von Geld als Kapital angetrieben wird.
Das betrifft die Geschwindigkeiten, Richtungen und Grenzen der Bewegungen. Bäume wachsen nicht in den Himmel, das Kapital schon. Wer sich von diesem Zwang befreien will, muss all seine Anstrengungen darauf richten, die natürlichen Lebensgrundlagen und alles, was ihm lieb und teuer ist, zu "erhalten", und alle kulturellen und sozialen Strukturen, die ihn daran hindern, zu "erneuern". Das ist meine zugleich konservative und revolutionäre Nachhaltigkeitsvision. Anders gesagt: Es geht um ein gutes Leben für alle und immer.

"Verhalten und Verhältnisse müssen als Einheit begriffen werden"

Was folgt daraus für die Ethik? Ist individuelles Agieren die Lösung für strukturell verursachte Probleme?
Fritz Reheis: Ethik als Theorie des gelingenden Lebens kann vor diesem Hintergrund nur dialektisch gedacht werden: Menschen und Strukturen, Individuelles und Kollektives, Verhalten und Verhältnisse müssen als Einheit begriffen werden. Nur so können Synergien in Richtung Nachhaltigkeit entstehen. Wenn der Kern der Nachhaltigkeit die Wiederholbarkeit ist, muss unser Verhalten dafür sorgen, dass Verhältnisse entstehen, die die Wiederkehr des Ähnlichen möglich machen, und zugleich müssen die Verhältnisse dafür sorgen, dass ein solches Verhalten auch möglich wird.
Zeitkultur und Zeitpolitik, ein zeitbewusster Lebensstil und Zeitwohlstand als Leitbild bedingen sich wechselseitig. In letzter Instanz, das lässt sich schon bei Marx und Engels nachlesen, sind jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse die Basis des individuellen Verhaltens. Aber sie fallen eben trotzdem nicht vom Himmel.

"Das grüne Verständnis internationaler Machtstrukturen ist von erschreckender Ahnungslosigkeit geprägt"

Abschließende Frage: Die Partei, die sich das Konzept der Nachhaltigkeit am plakativsten auf die Fahnen geschrieben hat, sind die Grünen, die, kaum an der Regierung, beispielsweise beim Tempolimit sofort umgefallen sind. Wie beurteilen Sie kurz die Arbeit der Grünen in der Koalition?
Fritz Reheis: Es mag ja sein, dass den Grünen gelungen ist, im Koalitionsvertrag einige Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Aber zum einen ist die Kluft zwischen den Programmatiken, Menschenbildern und Gesellschaftsverständnissen der drei Parteien ein ernsthaftes Umsetzungshindernis. Zum anderen haben sich die Grünen selbst völlig verlaufen. Das zeigt sich besonders deutlich in der hauptsächlich von ihnen beanspruchten "moralischen" Außen- und Sicherheitspolitik.
Sie führt zu jener kolossalen Selbstüberforderung der Ampel-Regierung, die wir derzeit erleben. Früher habe ich bei den Grünen "nur" eine realistische Sicht auf die herrschende Wirtschaftsordnung vermisst, ihre unkritische Haltung zu Markt und Kapital kritisiert. Jetzt muss ich zudem erkennen, dass auch das grüne Verständnis internationaler Machtstrukturen und der Erfordernisse der globalen Friedenssicherung von erschreckender Ahnungslosigkeit geprägt ist.
Die gegenwärtige grüne Wirtschafts- und Sicherheitspolitik steht zudem in starkem Kontrast zu jenen Idealen, mit denen die Grünen einst vor über vierzig Jahren angetreten waren. Von Basisdemokratie (auch in der Wirtschaft) und Gewaltfreiheit (auch der Auflösung der Militärblöcke) hört man schon lange nichts mehr. Nicht erst, seit die Grünen Regierungspartei geworden sind!

Fritz Reheis
Erhalten und Erneuern – Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht [6]
Hamburg 2022 (vsa-Verlag)
‎144 Seiten, 12,80 Euro
ISBN: ‎ 978-3964881632


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7540211

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/erhalten-und-erneuern/
[2] https://fritz-reheis.de/zur-person/
[3] https://thechill.at/2019/02/10/luxushotel-in-kitzbuehel/
[4] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_Fritz_Reheis.jpg
[5] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en
[6] https://www.amazon.de/dp/3964881635/ref=nosim?tag=telepolis0b-21